Das Parlament - Nr. 22-23 - 24. Mai 2024 (2024)

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GRUND ZUM WÄHLEN Wie das Europaparlament zum Machtfaktor in der EU geworden ist SEITE 4 GRUND ZUM FEIERN Festakt in Berlin zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes SEITE 12 Richtungsentscheidungfürdie E U S o n d erth e m a: E uro p a w a hl2024 Berlin, 25. Mai 2024 www.das-parlament.de 74. Jahrgang | Nr. 22-23 | Preis 1 € | A 5544 EUROPAPARLAMENT Wie viel EU – und welche EU? Die Europäer haben Anfang Juni die Wahl Weil es um etwas geht Beim Thema Schuldenmachen Wer am 9. Juni nicht wählt, verpasst eine Chance, den Kontinent mitzugestalten. © picture-alliance/Zoonar/Smilla72! KOPF DER WOCHE Chefankläger unter Druck i l l m o c s w e n / a p d / e c n a Karim Khan Schon mit seinem Haftbefehl ge- gen den russischen Präsidenten Putin wegen russischer Kriegsverbrechen im Angriffskrieg auf die Ukraine sorg- te der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für gehörigen Wirbel. Sein Antrag auf Haft- befehl für die Ha- mas-Führung wegen des Terrorangriffs auf Israel im Oktober 2023 tat das nun umso mehr: Weil er ihn in einem Atemzug mit Anträgen auf Haft- befehl auch für Israels Premier Netanjahu und Verteidigungsminister Galant verkündete. Der Vorwurf: Israel begehe womöglich Kriegsver- brechen und Verbrechen gegen die Mensch- lichkeit bei seinem militärischen Vorgehen ge- gen die Hamas in Gaza. Die Kritik Netanjahus, eine etwaige Strafverfolgung wäre ein „bei- spielloses antisemitisches Hassverbrechen“ konterte der britische Jurist kühl: „Niemand steht über dem Gesetz.“ ahe T a - e r u t c i p © ZAHL DER WOCHE 124 Staaten sind dem Rom-Statut beigetreten und erkennen damit den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag an. Israel ge- hört nicht dazu. Repräsentiert sind damit rund 60 Prozent der Staaten und rund 30 Prozent der Weltbevölkerung. ZITAT DER WOCHE »Mehr als empörend.« Israels Präsident Isaac Herzog kritisiert, dass das Vorgehen des Chefanklägers in Den Haag Israels Verteidigung eigener Si- cherheit und den Schutz seiner Bürger auf eine Stufe mit dem Hamas-Terror stelle. IN DIESER WOCHE THEMA Ukraine Hofreiter ist für einen EU-Hilfsfonds Der Europaausschuss-Vorsitzende Seite 2 Wahlrecht 27 nationalen Regeln gewählt Das EU-Parlament wird nach Was ist dran am Bürokratie Brüsseler Regulierungseifer? EU-Erweiterung Kandidaten, alte Probleme Neue Seite 5 Seite 6 Seite 7 Interview über die Stabilität des Euro Ex-EZB-Volkswirt Jürgen Stark Seite 9 MIT DER BEILAGE kommen Grüne und Liberale nicht zusammen. Das gilt auf nationaler Ebene beim The- ma Schuldenbremse, aber erst recht auf EU-Ebene. Während der Vorsitzende des Europa-Ausschusses Anton Hofreiter (Grüne) einen kreditfi- nanzierten EU-Fonds in Höhe von 300 bis 400 Milliarden Euro fordert, um die Ukrai- ne zu unterstützen und gemeinsam euro- päische Rüstungsgüter zu beschaffen, stellt die FDP-Spitze klar: Der EU-Wiederaufbau- fonds aus der zu Ende gegangenen Wahl- periode des Europa-Parlaments bleibt eine Einmaligkeit. „Keine erneute gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU“, verlangen die Liberalen. Die Wähler können diesen Zwist als nervi- gen Streit der Ampel-Koalition sehen. Oder eben anders: „Auch unter den Pro-EU-Par- teien gibt es sehr unterschiedliche Vorstel- lungen über die künftige EU-Politik“, sagt Funda Tekin, Direktorin des Instituts für Europäische Politik (iep) und Honorarpro- fessorin an der Universität Tübingen, und ergänzt: „Die Europäerinnen und Europäer haben die Wahl.“ Für manche mag das ei- ne Qual sein, wenn sie in Europa vom 6. bis zum 9. Juni und in Deutschland am 9. Juni ihre Stimme für das künftige Europäi- sche Parlament abgeben. Dass Demokratie einfach ist, hat aber niemand behauptet. Wer nicht wählt, verpasst eine Chance, den Kontinent mitzugestalten. Wirtschaft contra Umwelt Wie entschei- dend das EU-Parlament und die dortigen Mehrheitsverhältnisse mittlerweile sind, zeigt ein Rückblick auf die vergangene Wahlperiode. 2019 erreichten die Grünen in Deutschland 20,5 Prozent, wurden zweitstärkste Partei. Nur wenige Monate davor hatte „Fridays for Future“ die ersten Massenproteste für mehr Klimaschutz or- ganisiert. Der Zeitgeist war grün. Das hatte Folgen für die Politik. Die christ- demokratische Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen initiierte den Euro- päischen Grünen Deal, mit dem die Europäische Uni- on bis 2050 klimaneutral werden will. Ein Großteil der Schulden, die die EU aufnimmt, sollen der grü- nen Transformation der Wirtschaft dienen. Dazu kommen eine Reihe von Regulierungen. Seit- dem streiten die Parteien nicht nur über die Frage der öffentlichen Schulden, sondern auch über das Ver- hältnis von Wirtschaft und Umweltschutz. Am deutlichsten wurde dies beim Verbot von Autos mit Verbrennermotor nach dem Jahr 2035. Aber auch die EU-Verpackungs- richtlinie oder das Recht auf Reparatur wa- ren Gegenstand intensiver Verhandlungen. Thun Nguyen, stellvertretende Direktorin des Jacques Delors Centre der Hertie School in Berlin, nennt das europäische Renaturierungsgesetz als weiteres Beispiel für unterschiedliche Ansätze der verschie- denen Parteien. Dieses schreibt vor, min- destens 30 Prozent der entwässerten Torf- gebiete bis 2030 wiederherzustellen. EU- Kommissionspräsidentin von der Leyen habe dieses EU-Gesetz nur dank ausrei- chender Stimmen der Fraktion der Grünen im Europaparlament durchsetzen können, nachdem ihre eigene Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei (EVP) dagegen war. „Auch in der Migrationspolitik sind klare Unterschiede zwischen Grünen und EVP erkennbar“, sagt Nguyen. Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG 64546 Mörfelden-Walldorf 6 2 3 2 1 4 194560 401004 Zugeständnisse Trotzdem zieht von der Leyen für die EVP ins Rennen, um erneut Kommissionspräsidentin zu werden. „Frau von der Leyen ist mit ihrer Nominierung für eine zweite Amtszeit zumindest kom- munikativ auf ihre EVP-Freunde zugegan- gen, etwa was einen stärker wirtschafts- und wachstumsfreundlichen Kurs angeht“, sagt Nguyen. Das haben die EVP-Parteien ihr abgerungen. Nur mit Zugeständnissen auf diesem Gebiet konnte sie beim EVP- Nominierungsparteitag im März in Buda- pest ihre Aufstellung sichern. Kommissionspräsident wird indes nur, wer auch eine Mehrheit im Parlament für sich finden kann. Die Sozialdemokraten haben den Luxemburger Nicolas Schmit zu ihrem Spitzenkandidaten für die Wahl gekürt, derzeitiger EU-Kommissar für Beschäfti- gung und soziale Rechte. Wer auch immer die künftige Kommission führt – sie und das neue Parlament haben nicht viel Zeit, sich zu finden. Die Debatte mit den Mitgliedsstaaten über den nächs- ten mehrjährigen Finanz- rahmen der EU steht an, al- so die Frage, wie viel Geld die EU in den Jahren nach 2027 ausgeben darf, und vor allem: wofür. Für mehr Klimaschutz, mehr Subven- tionen an Industrieunter- nehmen oder Landwirte oder für Verteidigungspoli- tik? „Ohne Zustimmung des Europa-Parlaments gibt es keinen EU-Haushalt“, er- klärt iep-Direktorin Tekin. Da könnte es zum großen Problem für Europas Handlungsfähigkeit werden, wenn die Bürger Europas mit ih- ren Stimmen den EU-Gegnern im Parla- ment zu viel Gewicht geben. „Auch wenn es derzeit nicht danach aussieht: Sollten rechtsextreme Parteien und Antieuropäer so viele Stimmen bekommen, dass sie Ent- scheidungen blockieren können, könnte dies das EU-Parlament lähmen“, warnt Eu- roparechtlerin Nguyen. Warnung vor Anti-EU-Kurs Bei allen Un- terschieden im Detail, Politik- und Wirt- schaftswissenschaftler mahnen, die EU an sich nicht infrage zu stellen. Das hatte der AfD-Politiker Björn Höcke mit seinem Satz „Diese EU muss sterben“ vor knapp einem Jahr getan. „Es ist von großem wirtschaftli- chem Vorteil, dass wir die Europäische Union haben“, sagt dagegen Hans Peter Grüner, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim. Der Ökonom lobt nicht nur den europäi- schen Binnenmarkt. „Die EU bewirkt auf einigen Fel- dern großartiges, insbeson- dere in der Wettbewerbspo- litik, wo sie verhindert, dass große Unternehmen zu mächtig werden“, erläu- tert Grüner und erklärt wei- ter: „Die nationalen Regie- rungen sind da oft zu in- dustrienah.“ Soll heißen: Entfernt in Brüssel fällt es der Kommission leichter als nationalen Regierun- gen, gegen den Missbrauch von Markt- macht vorzugehen. „Die EU-Kommission kann sich der Lobby der nationalen Wirt- schaftsvertreter sagt Grüner. Er lobt auch die europäische Rohstoffini- tiative. „Die Europäische Kommission hat eine Liste erstellt für bestimmte Rohstoffe, leichter entziehen“, »Es ist von großem wirt- schaftlichem Vorteil, dass wir die EU haben.« Hans Peter Grüner, Ökonom »Ohne Zustimmung des Europa- Parlaments gibt es keinen EU-Haushalt.« Funda Tekin, Institut für Europäische Politik die am Beginn der Wertschöpfungsketten stehen, und will erreichen, dass man sich gemeinsam von einzelnen Importeuren unabhängiger macht“, erklärt Grüner. So will die EU sicherstellen, dass andere Staa- ten die Europäer nicht erpressen, indem sie ihnen wertvolle Rohstoffe vorenthalten, die der Ausgangspunkt für ganze Indus- trien sind, wie seltene Erden für die Pro- duktion von Batterien und Elektroautos. Stefan Kolev, wissenschaftlicher Leiter des Berliner Ludwig-Erhard-Forums für Wirt- schaft und Gesellschaft sowie Ökonomie- Professor an der Hochschule Zwickau, sagt mit Blick auf die anstehen- den Wahlen: „Wir brau- chen eine bessere EU. Man- che Dinge, die derzeit in Brüssel entschieden wer- den, sollten besser auf die nationale oder lokale Ebe- ne zurückverlagert wer- den.“ Trotzdem gebe es auch Bereiche, in denen mehr EU nötig sei, sagt Ko- lev: „Wir brauchen insbe- sondere besser integrierte Energie- und Kapitalmärk- te, und dafür müssen EU- Kommission, -Parlament und Europäischer Rat in der nächsten Wahlperiode ein Regel- werk schaffen.“ Bereits im November 2022 hatten Bundes- bankpräsident Joachim Nagel und sein französischer Kollege Francois Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, in einem gemeinsamen Beitrag die Debatte über eine Kapitalmarktunion zu einer „Fra- ge der strategischen Autonomie Europas“ erklärt. Insbesondere gegenüber dem welt- größten Kapitalmarkt der USA sind die fragmentierten Kapitalmärkte der europäi- schen Staaten im Nachteil. Unternehmen investieren auch deshalb gern in Amerika, weil sie dort aufgrund des großen Kapital- marktes bessere Finanzierungsbedingun- gen vorfinden. Hier kann Europa nur auf Augenhöhe kommen, wenn es die Kräfte seiner Finanzmärkte bündelt. Die weitere Stärkung des Binnenmarkts, nicht zuletzt mit Blick auf global wettbe- werbsfähige Kapitalmärkte, könnte ein be- deutendes Projekt der nächsten fünf Jahre auf werden. Die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament sind für ein Ge- lingen bedeutend. Stephan Balling Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper ED I TO R IA L Nicht nur für die Enkel VON CHRISTIAN ZENTNER „Erinnere dich immer daran, dass es Freiheit und Demokratie nicht immer gab“ – in der ak- tuellen Wahlkampagne des Europaparlaments erzählt eine der Protagonistinnen ihrer Enkel- tochter, wie sie Europa schon ganz anders er- lebt hat. Für sie war das in der ehemaligen Tschechoslowakei bis zum November 1989, als tagelange Proteste die kommunistische Füh- rung auch dort zum Rückzug zwangen. Der Weg zur Demokratie war frei, er führte sowohl Tschechien als auch die Slowakei bis zum EU- Beitritt vor fast genau 20 Jahren. Der Kurzfilm ist in 33 Sprachen auf dem Youtu- be-Kanal des Europäischen Parlaments abruf- bar und gehört ins Vorabendprogramm der TV- Sender. Der Clip trägt den Titel „Eine Nachricht für mein Enkelkind. Und für den Rest von Europa“ und ist die richtige Werbung für die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt, nach der Parlamentswahl in Indien. Rund 373 Millionen Menschen können in der EU im Juni ihre Stimme abgeben, um ihr neues Parlament zu wählen. In Deutschland sind rund 65 Millionen Menschen wahlberechtigt. Erstmals bei einer bundesweiten Wahl dürfen auch Jugendliche wählen, denn der Bundestag hat das Wahlalter für Europawahlen auf 16 Jahre abgesenkt. Die Enkel hatten in Deutsch- land noch nie so viel Mitbestimmungsrecht. Während demokratische Mitsprache nun also früher möglich ist, ist das Werben für politi- sche Positionen in diesem Europawahlkampf gefährlich geworden. Berichte über Beleidi- gungen, Bedrohungen und Angriffe gibt es beinahe täglich. Betroffen sind dabei auch vie- le ehrenamtliche Wahlkampfhelfer. Es gibt be- sorgte Empfehlungen, nicht mehr im Dunkeln zu plakatieren oder Wahlkampfmaterial zu ver- teilen. Wann aber sollen Ehrenamtliche dies neben Arbeit und Familie sonst tun? Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat recht mit seiner Warnung, die Demokratie ster- be von unten, wenn die vielen Engagierten in den Parteien sich dieses Engagement nicht mehr trauen. Die EU-Kampagne zur Wahl wirkt da fürchterlich vorausschauend. Im Kurzfilm mahnt die Zeitzeugin mit Blick auf Freiheit und Demokratie, „dass wir sie sehr leicht verlieren können“. Das Wesen der Demokratie bringt im Film eine Überlebende des Zweiten Weltkrie- ges für ihren Enkel auf den Punkt: „Hört ei- nander zu.“

2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 GASTKOMMENTARE EU-KOMMISSIONSPRÄSIDENTEN DIREKT WÄHLEN? Mehr Transparenz PRO Das Wort ist abgenutzt. Aber leider be- n e f a r g o t o f f o H © Silke Wettach, »Wirtschaftswoche«, Brüssel r e n t h c e F f e l t e D © Detlef Fechtner, »Börsenzeitung«, Brüssel schreibt der Begriff Hinterzimmerdeal ziemlich exakt, wie die höchsten Äm- ter in der EU vergeben werden. Nach der Europawahl werden die Staats- und Regie- rungschefs die Topjobs in der EU verteilen. Die Par- tei mit den meisten Stimmen, höchstwahrschein- lich die europäischen Christdemokraten, wird den Posten an der Spitze der EU-Kommission für sich reklamieren. Die anderen Parteien werden die ver- bleibenden Ämter unter sich aufteilen. Die Politi- ker werden dabei so lange feilschen, bis ein eini- germaßen geographisch ausgewogen Paket steht, das große und kleine Länder berücksichtigt. Dieser Prozess wirkt aus der Zeit gefallen – und hat we- nig mit Demokratie zu tun. Die Feinde der EU überzeichnen gerne ihre Schwachstellen. Bei der Personalwahl hat die EU allerdings wirklich ein großes Problem. Wenn die europäische Bevölkerung künftig direkt bestim- men würde, wer an der Spitze der EU-Kommission steht, dann wäre das ein großer Fortschritt. Die EU würde an Transparenz gewinnen. Es ist offensichtlich, dass sich die Staats- und Re- gierungschefs den Auswahlprozess nicht aus der Hand nehmen lassen. Versuche des Parlaments, die Wahl zum Wettbewerb unter Spitzenkandida- ten zu machen, sind gescheitert. Vor fünf Jahren war klar, dass Manfred Weber (CSU) das Amt nicht bekommen wird, weil weder die damalige Kanzle- rin Angela Merkel (CDU) noch Frankreichs Präsi- dent Emmanuel Macron ihm das Amt zutrauten. Diesmal nennt sich Ursula von der Leyen (CDU) Spitzenkandidatin, stellt sich aber nicht zur Wahl. Bisher haben die Wähler nicht das Gefühl, dass ih- re Stimme wirklich zählt. Am Schluss entscheiden andere über das Personal. Das muss sich ändern. den Europawahl-Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten Nicolas Schmit unter dem Titel: „Nicolas wer?“. In der Tat kennt den Luxemburger in Deutschland fast niemand. Und das, obwohl er glänzend Deutsch spricht. Das Beispiel zeigt: Es ist keine gute Idee, die EU- Kommissionspräsidentin oder den EU-Kommissi- onspräsidenten direkt wählen zu lassen. Denn die Bürger Europas müssten zwischen ihnen unbe- kannten Kandidaten entscheiden. Viele Wähler würden für Bewerber aus ihrem Land votieren. Statt sich für schwarz oder rot zu entscheiden, würden sie quasi für schwarz-rot-gold stimmen. Wer findet, diese Vermutung sei übertrieben, muss erklären, warum es beim Eurovision Song Contest – zu Recht! – den Zuschauern verboten ist, für den Kandidaten aus dem eigenen Land abzustim- men. Das Ergebnis einer Direktwahl der Chefin oder des Chefs der EU-Kommission wäre, dass Kandidaten aus Österreich oder Luxemburg und erst recht Bewerber aus Bulgarien oder Portugal, sofern sie nicht Deutsch sprechen, hierzulande kaum Aussichten auf Stimmen hätten. Noch gibt es weder europäische Tageszeitungen noch Rundfunksender, die es in ihrer Breitenwir- kung auch nur annähernd mit nationalen Medien aufnehmen können. Solange aber eine „europäi- sche Öffentlichkeit“ Zukunftsmusik ist, dürfte eine Direktwahl der Präsidentin oder des Präsidenten der EU-Kommission eher die nationale Orientie- rung der Wähler befördern als deren europäische Perspektive. Das würde dem engeren Zusammen- wachsen der Europäischen Union mehr schaden als nutzen. Keine gute Idee CONTRA Die Tagesschau berichtete neulich über Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 11. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30) 2 27-3 05 15 Telefax (0 30) 2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Christian Zentner (cz) V.i.S.d.P. Stellvertretender Chefredakteur Alexander Heinrich (ahe) Redaktion Dr. Stephan Balling (bal) Lisa Brüßler (lbr) Carolin Hasse (cha) (Volontärin) Claudia Heine (che) Nina Jeglinski (nki) Claus Peter Kosfeld (pk) Johanna Metz (joh) Elena Müller (emu) Sören Christian Reimer (scr) CvD Sandra Schmid (sas) Michael Schmidt (mis) Helmut Stoltenberg (sto) Alexander Weinlein (aw) Redaktionsschluss 23. Mai 2024 Druck und Layout Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. 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Für unverlangte Einsendungen wird keine Haftung nur mit übernommen. Nachdruck Genehmigung Redaktion. Für Unterrichtszwecke können Kopien in Klassenstärke angefertigt werden. der „Das Parlament“ ist Mitglied der Informationsgesellschaft zur Feststellung der Verbrei- tung von Werbeträgern e. V. (IVW) Für die Herstellung der Wochenzeitung „Das Parlament“ wird Recycling-Papier verwendet. Herr Hofreiter, angesichts des russi- schen Angriffskriegs, des Terrors in Nah- ost und der sich zuspitzenden Taiwan- Frage: Wie wichtig ist die anstehende Eu- ropawahl? Sie ist sehr wichtig. Wahlen haben ange- sichts der rechtspopulistischen und rechts- radikalen Bedrohung für unsere Demokra- tie eine ganz neue Bedeutung bekommen. Inwiefern? Als ich Kind war, war die Frage, ob der Bundeskanzler Helmut Kohl oder Helmut Schmidt heißt. Bei allen großen politi- schen Unterschieden waren beide pro-eu- ropäisch und anständige Demokraten. So war es auch in Amerika im Wettstreit der großen Parteien. Heute fragen wir uns, ob es die US-Demokratie übersteht, wenn Do- nald Trump wieder Präsident wird. In Europa greifen die Verbündeten Russlands und auch Chinas, nämlich die Rechtsradi- kalen, die Demokratie von Innen an. Was hat das EU-Parlament in der vergangenen Wahlperiode bewirkt? Das Parlament war in den vergangenen fünf Jahren entscheidender Antreiber, etwa bei der Unterstützung der Ukraine. Auch beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedsländern hat das Parlament die EU-Kommission und die nationalen Regie- rungen angetrieben. Denken Sie an Un- garn und dessen Präsidenten Viktor Orban. Hier wäre ohne das Europa-Parlament na- hezu nichts passiert. Das Parlament war darüber hinaus Initiator für die Transfor- mation der Industrie, dem Green Deal, mit dem Europa bis 2050 klimaneutral werden will. Auch gegenüber China zeigt vor allem das Parlament, dass die EU Dumping-Me- thoden etwa bei Solarmodulen im interna- tionalen Wettbewerb nicht akzeptieren wird. Beim European Chips Act, der dafür sorgen soll, dass die europäische Industrie ihre große Abhängigkeit bei Halbleitern aus Asien zumindest etwas reduziert, war das EU-Parlament ebenfalls führend. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) gilt als gesetzt für eine zweite Amtszeit. Gibt es bei dieser Wahl wirklich eine Wahl für die Bürger? Frau von der Leyen macht weiter, wenn die Europäische Volkspartei (EVP) die stärkste Fraktion stellt. Wenn eine andere Fraktion stärker wird, dann macht von der Leyen als Kommissionspräsidentin nicht weiter. Nun gehen viele aufgrund der aktuellen Umfra- gen davon aus, dass die EVP stärkste Frakti- on wird. Aber die Entscheidung liegt bei den Wählerinnen und Wählern. Aber die nationalen Regierungen schlagen die Person vor, die Kommissi- onspräsident wird, nicht das Parlament. Ja, aber das Parlament muss zustimmen. Wie beurteilen Sie die Forderung nach einem EU-Verteidigungskommissar? Es kann sinnvoll sein, dass sich jemand um die zentrale Fragen von Rüstung und Verteidigung kümmert. Notwendig sind aber vor allem finanzielle Mittel. Also ein EU-Fonds für Verteidigung? Ja. Das hätte nicht nur den Vorteil, dass Europa stärker wird, sondern auch, dass die Rüstungsindustrie eine effizientere Be- schaffung sicherstellen könnte, im Ver- gleich zur heute zersplitterten europäi- schen Verteidigungspolitik mit 27 nationa- len Verteidigungshaushalten. Muss Deutschland dann künftig noch mehr Geld nach Brüssel überweisen? Das wird schwierig angesichts der aus der Zeit gefallenen deutschen Schuldenbrem- se. Nötig ist deshalb ein neuer EU-Fonds, den die EU über eigene Kredite finanziert. Wie groß sollte so ein Fonds sein? »Nötig ist ein EU- Fonds« ANTON HOFREITER Der Grünen- Abgeordnete schlägt zur Unterstüt- zung der Ukraine und für gemein- same Rüstungsprojekte ein eigenes EU-Budget vor Das müsste nochmal im Detail durchge- rechnet werden. Aus meiner Sicht wäre ein Volumen von 300 bis 400 Milliarden Euro in den kommenden fünf Jahren sinnvoll. Mit dem Geld sollte die Ukraine unter- stützt und gemeinsame Rüstungsprojekte der EU-Mitgliedsstaaten finanziert werden. hat Das EU-Parlament kürzlich schärfere Regeln für die Migration be- schlossen. Steht nun die Festung Europa? Für die EU war es wichtig, sich zu einigen. Ob diese Einigung die Situation materiell © Anton Hofreiter/Paul Bohnert in irgendeine Richtung verbessert, ist zwei- felhaft. Das Thema ist komplex. Und schon vorher haben sich eine Reihe von Ländern nicht an die Regeln gehalten. Ist der Beschluss zufriedenstellend? Zufrieden kann man nicht sein, nach wie vor ist die EU-Südgrenze die tödlichste Grenze der Welt. Tausende Menschen er- trinken jährlich im Mittelmeer. Auch beim Kampf gegen die Fluchtursachen kann man nicht zufrieden sein. Noch immer richtet die Fischerei- und Landwirtschafts- politik der EU in anderen Regionen der Welt gewaltige Schäden an. Zwar agiert mittlerweile China noch gefährlicher, aber auch europäische Fangflotten fischen wei- terhin die Küsten Afrikas leer. Dazu kom- men die EU-Agrarexporte, die Kleinbauern in Westafrika ruinieren. Wie schlimm ist die EU-Agrarpolitik? Wir können in vielerlei Hinsicht stolz auf die EU sein – unsere Landwirtschafts- und Fischereipolitik gehört mit Blick auf die Länder des globalen Südens nicht dazu. Wie wichtig ist die Zusammenarbeit des Europa-Ausschusses des Bundestags mit dem EU-Parlament? Sehr wichtig. Im Europa-Ausschuss des Bundestags arbeiten als kooptierte Mitglie- der einige deutsche Abgeordnete des Euro- paparlaments mit. Teilweise sind diese bei Ausschusssitzungen vor Ort in Berlin da- bei, teilweise digital. Andersherum sind die Mitglieder des Europaausschusses regelmä- ßig vor Ort in Brüssel. Wichtig sind auch die regelmäßigen Treffen der Europaaus- schüsse der nationalen Parlamente inklusi- ve der assoziierten Staaten, das sogenannte COSAC-Format. Dazu kommt die Zusam- menarbeit der Fraktionen des Bundestags mit denen des Europaparlaments. Auf welchem politischen Feld sticht diese Arbeit besonders hervor? Ein gutes Beispiel ist die frühzeitige Posi- tionierung aller demokratischen Fraktio- nen zum Thema Georgien. Dort will die Regierung mit ihrem sogenannten Agen- tengesetz demokratische Grundprinzipien aushebeln. Wir haben im Europaausschuss viele Abgeordnete, die sich tiefgehend mit einzelnen Ländern befassen und große Ex- pertisen einbringen. Wenn Sie sagen, „demokratische Fraktionen“, schließt das die AfD ein? Nein, die AfD arbeitet im Ausschuss nicht konstruktiv mit. Vor einem Jahr erschütterte ein Kor- ruptionsskandal das EU-Parlament, nun gibt es weitere Fälle in Berlin und Brüs- sel. Was heißt das für die Demokratie? Diese Fälle muss man sehr genau unter- scheiden. Im EU-Parlament wurde 2022 aufgedeckt, dass sich demokratische Abge- ordnete von ausländischen Staaten haben kaufen lassen. Das ist schlimm genug. Da- zu kommen jetzt aber die Fälle des AfD- Europaabgeordneten und Spitzenkandida- ten Maximilian Krah und des AfD-Bundes- tagsabgeordneten Petr Bystron. Bei Krah und Bystron geht es nicht um klassische Korruption, sondern darum, dass beide Verbündete der Autokraten Putin und Jin- ping sind, und dafür offenbar Geld be- kommen. Das ist eine Truppe von Landes- verrätern im Dienste Moskaus und Pekings. Die Demokratie muss sich darin beweisen, dass sie mit ihren Gegnern fertig wird. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Demokratie sich so beweisen kann? Ich bin da sehr zuversichtlich. Es wird im- mer wieder davon geredet, dass die Brand- mauer nach rechts wackelt. Die vergange- nen sechseinhalb Jahre, seitdem die AfD im Bundestag sitzt, erlebe ich aber, dass die Trennlinie zwischen den demokratischen Fraktionen im Bundestag und der AfD deutlich klarer geworden ist, auch weil die AfD immer offener zeigt, wie radikal sie ist. Das Gespräch führte Stephan Balling. Anton Hofreiter (54, Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 2005 im Bundestag und seit Dezember 2021 Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union. PARLAMENTARISCHES PROFIL Der EU-Parlamentsvize: Jan-Christoph Oetjen A m Tag, als Jan-Christoph Oetjen sein Büro als Vize- Präsident des Europäischen Parlaments bezog, flo- gen von außen Eier an die Fensterscheiben. Damals, Anfang Februar, demonstrierten Landwirte in Brüs- sel gegen die europäische Agrarpolitik und beließen es nicht nur bei lautstarkem Protest. Im Europäischen Parlament roch es noch Tage später nach verbrannten Autoreifen. Die aufgebrachte Menge wusste nicht, dass die europäische Volksvertretung gerade einen Vize-Präsidenten bekommen hat- te, der sehr gut weiß, wie es in der Landwirtschaft zugeht. Auf einem Hof in der niedersächsischen Tiefebene zwischen Ham- burg und Bremen aufgewachsen, war es für Oetjen in der Ju- gend normal mit anzupacken. Melken, Strohpressen, Kühe um- treiben – damit kennt sich der heute 46-Jährige aus. Sein jün- gerer Bruder führt den Familienbetrieb in achter Generation mittlerweile weiter und lässt den Politiker in der Familie gerne wissen, wenn er nicht zufrieden ist mit dem, was da „in Brüs- sel“ wieder entschieden wurde. Außerhalb der EU-Hauptstadt werden Kompetenzen ja oft nicht so genau unterschieden. Oetjen, seit 2019 EU-Abgeordneter, übernahm im Februar den Vizeposten im Europäischen Parlament von seiner liberalen Par- teifreundin Nicola Beer, die zur Europäischen Investitionsbank wechselte. Von Beer übernahm er das Büro mit dem Blick auf die Place du Luxembourg und die Zuständigkeiten für Überset- zer- und Dolmetscherdienste im Europäischen Parlament sowie die Rolle als Sonderbeauftragter für die Bekämpfung von Dis- kriminierung aufgrund der Religion, die Antisemitismus ein- schließt. Während seiner zehn Jahre im niedersächsischen Landtag hatte Oetjen gemerkt, dass bei seinen Schwerpunktthemen – Agrar und Migration – die wirklich wichtigen Entscheidungen in Brüs- sel fielen. Er war zu Zeiten der Syrien-Krise innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, hatte sich tief eingearbeitet. Als Gesi- ne Meissner 2019 nicht mehr für das Europäische Parlament ..................................................................................................................................................... e c n a i l l a - e r u t c i p / a p d © »Wenn man vom Hof kommt, dann weiß man, was Arbeit ist.« kandidierte, ergriff Oetjen die Gelegenheit und schaffte auf Lis- tenplatz fünf der FDP den Sprung nach Europa. Geholfen hat ihm bei dem Wechsel seine Verbindung zu Frank- reich. Mit 13 Jahren landete er bei einem Austausch mit der Partnerstadt Sainte-Foy-la-Grande in der Nähe von Bordeaux bei einer Gastfamilie, die weder Englisch noch Deutsch sprach. Bei einem weiteren Austausch lernte er später seine französi- sche Frau kennen. Mit ihr und den beiden Töchtern, acht und 12 Jahre alt, lebt er in Brüssel. Sein Wirtschaftsstudium in Hannover hat Oetjen abgebrochen, als er mit 24 Jahren in den niedersächsischen Landtag gewählt wurde. „Zu früh“, wie er heute sagt, weil er Berufserfahrung für positiv hält. Gleichzeitig hat er auf dem Hof der Eltern ge- lernt, wie es sich anfühlt, den Lebensunterhalt mit den eigenen Händen zu erwirtschaften: „Wenn man vom Hof kommt, dann weiß man, was Arbeit ist.“ Bevor er in der Kreisstadt Rotenburg den Ortsverein der FDP gründete, hatte sich Oetjen als Jugend- licher bei den Grünen umgesehen, doch das war nicht seine Welt. Bei der Jungen Union wurde viel gefeiert. „Die Partys wa- ren gut, aber das war mir zu wenig“, erinnert er sich. Im Europäischen Parlament hat sich Oetjen in der abgelaufenen Legislaturperiode erneut mit Migration beschäftigt, ein Thema, das die Fraktion bisher gespalten hat. Er wertet es als Erfolg, dass sich dort alle hinter sein Papier stellten. Dass sich Parla- ment und Mitgliedsstaaten nach jahrelanger Debatte auf einen Pakt für Migration geeinigt haben, sei ein großer Fortschritt. Das späte Veto der FDP beim Verbrenner-Aus hält er für richtig: „Andere Länder blockieren genauso spät, darüber wird nur nicht berichtet.“ Für die FDP betreut Oetjen weiter die Land- wirtschaft. Ob Bauern künftig wieder vor dem EU-Parlament demonstrieren werden, hänge davon ab, betont er, ob EU-Kom- missionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ihre Verspre- chen auch in die Tat umsetzen werde. sw T

Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 EUROPAWAHL 2024 3 A n den Verkehrszeichen er- kennt man, ob man sich in der Republik Irland oder in Nordirland befin- det. Im Norden wird die Geschwindigkeit in Meilen gemessen, im Süden in Kilometern. Aber es gibt nur wenige Verkehrszeichen in dieser Gegend, die von Moor und Kalkstein ge- prägt ist. Drummully Polyp heißt dieser Ort. Es ist eine irische Exklave, die wie ein Polyp nach Nordirland hineinragt. Wer hierher will, muss durch Nordirland fah- ren. Ein Stück lang verläuft die Grenze mit- ten auf der Straße. Wenn man in eine Rich- tung fährt, ist man in Nordirland, fährt man in die andere Richtung, ist man in der Republik. Bis zur Teilung Irlands nach dem Unab- hängigkeitskrieg spielte das keine Rolle. Doch im Mai 1921 wurden 26 Grafschaf- ten zum „Freistaat Irland“, die sechs nord- westlichen Grafschaften, das heutige Nord- irland, blieben bei Großbritannien. Plötz- lich gab es hier eine internationale Grenze. Nach dem Belfaster Abkommen vom Kar- freitag 1998, das Nordirland relativen Frie- den brachte, war die Grenze wieder un- wichtig. Dann kam der Brexit, und die Grenze spielte erneut eine wichtige Rolle. Alte Rivalität Sie wurde damals so gezo- gen, dass pro-britische Protestanten eine bequeme Zwei-Drittel-Mehrheit hatten, und das nutzten sie aus: Katholiken, die mehrheitlich für die irische Vereinigung sind, wurden von besser bezahlten Jobs in der Industrie ausgeschlossen, sie bekamen keine Stellen im öffentlichen Dienst und der Zugang zu vielen Bildungseinrichtun- gen wurde ihnen verwehrt. Die Wahlkreise wurden so manipuliert, dass Katholiken selbst in Städten wie Der- ry/Londonderry, in denen sie in der Mehr- heit waren, unterrepräsentiert blieben. Fer- ner war das Wahlrecht bei Kommunalwah- len an Hauseigentum gebunden, was be- deutete, dass manch protestantischer La- denbesitzer bis zu 40 Stimmen hatte, wäh- rend viele Katholiken leer ausgingen. Dagegen formierte sich Ende der 1960er Jahre die Bürgerrechtsbewegung. Sie for- derte gerechte Job- und Wohnungsvergabe sowie Wahlrecht für alle. Niemand ahnte damals, dass die moderaten Forderungen einen blutigen Konflikt auslösen würden, der in den folgenden 30 Jahren mehr als 3.500 Menschen das Leben kostete. Als Antwort auf die Demonstrationen der Bürgerrechtler überfielen protestantische Banden unter Duldung und oftmals tat- kräftiger Mithilfe der fast ausschließlich protestantischen Polizei die katholischen Viertel. Die Irisch-Republikanische Armee (IRA), die sich zehn Jahre zuvor zur Ruhe gesetzt hatte, grub die Waffen wieder aus, die britische Regierung entsandte ihre Truppen. Vom Frieden beflügelt Erst in den 1980er Jahren begannen – zunächst im Geheimen – Friedensverhandlungen, die am Karfrei- tag 1998 in das Belfaster Abkommen mün- deten. Darin ist festgelegt, dass die beiden stärksten Parteien auf protestantisch-unio- nistischer und katholisch-republikanischer Seite den Ersten Minister und seinen gleichberechtigten Stellvertreter ernennen müssen. Die nordirische Regierung ist eine Zwangskoalition, der alle Parteien angehö- ren, die mindestens neun Sitze haben. In Nordirland stimmten 71 Prozent und in der Republik sogar 94 Prozent für das Ab- Hoffen auf Ruhe NORDIRLAND Mit dem Brexit sind neue politische Probleme entstanden In der nordirischen Hauptstadt Belfast ziehen sich hohe Mauern und robuste Metallzäune durch die Stadt. Sie werden „Friedensmauern“ genannt und trennen Stadtviertel mit überwiegend pro-irischen von solchen mit pro-britischen Einwohnern voneinander ab. Es gibt heute mehr als 40 solche Mauern in der Stadt. © picture-alliance/dpa/Mariusz Smiejek kommen. Die Wähler in der Republik Ir- land ließen außerdem die Verfassungspara- grafen ändern, in denen Anspruch auf Nordirland erhoben wurde. Im neuen Text ist nur noch von dem Wunsch nach einem vereinigten Irland die Rede, das nur mit Zustimmung einer Mehrheit in Nordirland zustande kommen kann. Vom Friedensprozess beflügelt, erlebte Bel- fast einen Aufschwung, der die nordirische Hauptstadt laut Reiseführer „Lonely Pla- net“ in die Liste der „zehn aufstrebenden Städte der Welt“ katapultiert hat. Es ent- standen gigantische Einkaufszentren, schi- cke Restaurants und exklusive Hotels. Und die Touristen kamen. Waren es vor dem Abkommen 400.000 im Jahr, sind es in- zwischen mehr als fünf Millionen. Doch abseits der Innenstadt, in den am stärksten benachteiligten Vierteln, hat eine Annähe- rung der Bevölkerungsgruppen kaum statt- gefunden, das Misstrauen sitzt tief. Dort sind die Mauern noch immer hoch – und nicht nur in den Köpfen: Als das Belfaster Abkommen unterzeichnet wurde, trennten 24 Mauern die protestantischen und ka- tholischen Viertel Belfasts. Heute sind es mehr als 40. Auch unter den Politikern ist Misstrauen weit verbreitet. Die Regionalregierung wur- de von beiden Seiten immer wieder lahm- gelegt – weil die irische Sprache keine För- dergelder bekam, wegen eines Finanzskan- dals, und zuletzt wegen des Brexits, denn dadurch wurde eine Sonderregelung für Nordirland notwendig, damit britische Waren nicht unkontrolliert nach Nordir- land und von dort in die EU gelangen konnten. London und Brüssel einigten sich 2020 auf das Nordirland-Protokoll. Darin ist festgelegt, dass Nordirland im EU-Bin- nenmarkt und in der Zollunion bleibt. Wahlberechtigt sind die Nordiren bei den Europawahlen trotzdem nicht. Zweck des Protokolls war es, eine physische Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden, zumal das ohnehin nicht zu überwachen wäre. Die Grenze ist rund 500 Kilometer lang, es gibt 275 Straßen, die sie kreuzen. Stattdessen schuf man eine Zollgrenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien, denn irgendwo müssen die Waren ja kontrolliert werden. Die De- mocratic Unionist Party (DUP), die stärks- te protestantische Partei, monierte, dass Nordirland dadurch anders behandelt wer- de als der Rest des Vereinigten Königreichs. Die DUP-Parteiführung beschloss 2022, der Regierung fernzubleiben, solange das Nordirland-Protokoll bestehe. Dadurch waren die Institutionen lahmgelegt. Damit die DUP in die Regierung zurück- kehrte, vereinbarte die britische Regierung 2023 mit der EU eine Neuregelung, den „Windsor-Rahmenplan“. Der schaffte die Kontrollen für Waren ab, die aus Großbri- tannien nach Nordirland kommen – außer die Waren gehen weiter in die Republik Ir- land, also in die EU. Die DUP hat sich fer- ner eine „Stormont Brake“, eine Bremse, durch das nordirische Parlament, zusi- chern lassen. So lässt sich jede Veränderung von EU-Regeln für Nordirland verhindern. Demütigung für DUP Im Februar 2024, genau zwei Jahre nach dem DUP-Boykott, kehrte die Partei in die Regierung zurück. Da bei den Wahlen 2022 Sinn Féin, der ehemalige politische Flügel der inzwischen aufgelösten IRA, aber stärkste Partei gewor- den war, muss sich die DUP mit dem Amt der stellvertretenden Ersten Ministerin für ihre Kandidatin Emma Little-Pengelly be- gnügen. Michelle O’Neill von Sinn Féin wurde Erste Ministerin. Zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands stellten die Unionisten nicht den Regierungschef. Obwohl das vor allem symbolische Bedeu- tung hat, empfinden es viele DUP-Mitglie- der als Demütigung, hinter Sinn Féin die zweite Geige zu spielen. Symbole haben in Nordirland immer eine große Rolle ge- spielt und oftmals positive Entwicklungen verhindert. In diese Kategorie fällt auch die „Stormont Brake“, denn dadurch entsteht eine Rechtsunsicherheit, die ausländische Investoren möglicherweise abschreckt. Dabei hatte der Brexit Chancen auf einen Wirtschaftsaufschwung eröffnet, die dem Rest des Vereinigten Königreichs verwehrt blieben, nämlich ungehinderter Handel mit Großbritannien und der EU. Nirgend- wo anders wird einem das geboten. Doch wieder einmal hat Symbolik über Pragma- tik gesiegt. Bis zur Teilung waren die nord- irischen Grafschaften weitaus wohlhaben- der als der Rest der Insel. 81 Prozent der Wirtschaftsleistung wurden im Norden er- bracht, 70 Prozent der Frauen und 32 Pro- zent der Männer waren in der Leinen-In- dustrie, im Schiffbau und in der Rüstung beschäftigt – weit mehr als im Süden, wo es ohne die Guinness-Brauerei noch schlechter ausgesehen hätte. Belfast war da- mals nicht nur die größte, sondern auch die reichste Stadt Irlands. Arme Kinder Heutzutage haben Kinder der ärmsten 20 Prozent in Nordirland eine Lebenserwartung von nur 53 Jahren. Auch im Bildungsbereich geht die Schere ausei- nander: In Nordirland, so hat eine Studie des unabhängigen Economic and Social Research Institute in Dublin ergeben, ha- ben 40,7 Prozent der 25- bis 34-Jährigen eine Hochschulausbildung, in der Repu- blik sind es mehr als 55 Prozent. In Nord- irland haben 20 Prozent keinen Schulab- schluss, in der Republik nur 7,4 Prozent. Ein Drittel der 16- bis 64-Jährigen in Nord- irland hat weder einen Job noch eine Aus- bildung. Es ist der höchste Prozentsatz im Vereinigten Königreich. Und die Gewalt hat ihre Spuren hinterlassen. Psychische Krankheiten sind weit verbreitet. Die Sui- zidrate hat sich seit 1998 mehr als verdop- pelt. In den vergangenen 25 Jahren starben mehr Menschen durch Selbsttötung als während des bewaffneten Konflikts. Die meisten Menschen in Nordirland at- meten auf, als Regierung und Parlament nach zwei Jahren, in denen wichtige Ent- scheidungen auf Eis lagen, ihre Arbeit wie- der aufnahmen. Man hofft, dass es ein Schritt in Richtung Normalität sein könnte. Doch davon ist man noch ein gutes Stück entfernt. Ein Kommentator sagte einmal, dass die Vergangenheit in Nordirland eine Ralf Sotscheck T große Zukunft habe. Der Autor ist Korrespondent in Irland. Comeback eines Pleitekandidaten GRIECHENLAND Der wirtschaftliche Aufschwung kommt bei vielen Menschen noch nicht an. Skepsis gegenüber der Europäischen Union ist verbreitet Der einstige Pleitekandidat Griechenland hat ein erstaunliches Comeback hingelegt. Aber bei vielen Menschen ist das „Wirt- schaftswunder“ noch nicht angekommen. Sie spüren weiter die Folgen der Staats- schuldenkrise. Das Verhältnis zu Europa ist ambivalent. Davon könnte bei der Europa- wahl eine rechtspopulistische Partei profi- tieren. Die Wähler nutzen die Europawahl gern, um Denkzettel zu verteilen. Das könnte vor allem die seit 2019 mit absoluter Mehr- heit regierende konservative Nea Dimokra- tia (ND) von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis zu spüren bekommen, die in Umfragen klar vorne liegt. Mitsotakis enga- giert sich deshalb sehr im Europawahl- kampf und bereist seit Wochen das ganze Land. Er bittet um „ein starkes Mandat, da- mit ich unsere berechtigten Forderungen in Brüssel vertreten kann“. Ein schlechtes Ergebnis bei der Europa- wahl würde „den Regierungsauftrag beein- trächtigen, den wir bei den Parlaments- wahlen im vergangenen Juni bekommen haben“, heißt es bei der ND. Damals konn- te die Partei mit 41 Prozent ihre absolute Mehrheit im Parlament verteidigen. Dass sie bei der Europawahl diesen Erfolg wie- derholen kann, gilt als unwahrscheinlich. Gemessen wird Mitsotakis an der Europa- wahl 2019. Damals erreichte die Partei 33,1 Prozent. Interessant wird auch, wie sich die zersplit- terte linke Opposition neu sortiert. Das von 2015 bis 2019 regierende radikale Linksbündnis Syriza verzeichnete bei der letzten Parlamentswahl schwere Verluste. In Umfragen liegt Syriza bei 15 Prozent, gefolgt von der sozialdemokratischen Tra- ditionspartei Pasok mit rund 13 Prozent. Starke Wirtschaft Mitsotakis verdankt sei- ne Wiederwahl vor allem dem Wirtschafts- aufschwung. Zum zweiten Mal in Folge vergab das Wirtschaftsmagazin „The Eco- nomist“ das Prädikat für die „beste Wirt- schaft des Jahres“ 2023 an Griechenland. Tatsächlich glänzt Griechenland mit beein- druckenden Zahlen. Das Bruttoinlandspro- dukt (BIP) wuchs vergangenes Jahr viermal so schnell wie im Durchschnitt der Euro- Zone. Für dieses Jahr erwartet die EU-Kom- mission für Griechenland ein dreimal so starkes Wachstum wie im Schnitt der EU. Kein anderer EU-Staat hat seine Schulden- quote seit 2020 so schnell gesenkt wie Griechenland, nämlich um 44 Prozent- punkte. Die Regierung hat die Staatsfinanzen im Griff: „Wir sind nicht länger das schwarze Schaf der Euro-Zone“, stellte Finanz- und Wirtschaftsminister Kostis Hatzidakis fest. Drei der vier großen Ratingagenturen be- werten das Land wieder als investitions- würdigen Schuldner. Sie honorieren damit nicht nur den Schuldenabbau, die Haus- haltsdisziplin und die Strukturreformen, sondern auch die politische Stabilität. eine wirtschafts- Mitsotakis freundliche Politik mit starken sozialen Komponenten. Er hat den staatlichen Min- destlohn in mehreren Schritten von 650 auf 830 Euro heraufgesetzt und die staatliche Förderung für junge Familien er- heblich ausgeweitet. Anfang des Jahres ver- abschiedete das Parlament einen Gesetz- entwurf der Regierung zur Einführung der verbindet Flüchtlinge 2015 auf der griechischen Insel Gavdos. © picture alliance / dpa | Vassilis Mathioudakis Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – im eher konservativ-orthodox geprägten Grie- chenland ein kontroverses Thema. Mitsota- kis setzte sich persönlich für das Gesetz ein und schärfte damit sein Profil als liberaler Reformer. Er hat seit seinem Amtsantritt als Parteichef Anfang 2016 die früher rechtsge- richtete ND zur politischen Mitte geöffnet. Unumstritten ist dieser Kurs in der ND aber nicht. Hohe Inflation Auch Mitsotakis‘ Unter- stützung für die Ukraine im Konflikt mit Russland trifft nicht auf ungeteilte Zustim- mung. Laut Umfragen sind zwei Drittel ge- gen Waffenlieferungen an die Ukraine. Vie- le Griechen fühlen sich Russland verbun- den, vor allem wegen der gemeinsamen or- thodoxen Religion. Aber vor allem die ho- hen Lebenshaltungskosten drücken auf die Stimmung. Offiziell lag die Inflation im März bei 3,2 Prozent. Doch die gefühlte Teuerung ist viel höher, vor allem bei Le- bensmitteln. In einer Erhebung der Athe- ner Wirtschaftsuniversität sagten 45 Pro- zent der Befragten, dass es ihnen 2024 schlechter gehe als im Vorjahr. Profitieren könnte von der Unzufrieden- heit die rechtspopulistische Partei „Grie- chische Lösung“. Sie kam bei der Parla- mentswahl auf 4,4 Prozent. In einigen Umfragen liegt sie nun bereits bei neun Prozent. Parteichef Kyriakos Velopoulos wirbt mit ultranationalen, religiös-konser- vativen, russophilen, ausländerfeindlichen und EU-skeptischen Parolen um Stimmen. Bei einer EU-weiten Umfrage vom Herbst 2023 gaben in Griechenland nur 15 Pro- zent der Befragten an, sich „voll und ganz“ als EU-Bürger zu fühlen, 40 Prozent stimmten der Aussage „teilweise“ zu. Das war deutlich weniger als im Durchschnitt der 27 Mitgliedsstaaten, in denen sich 72 Prozent voll oder teilweise als EU-Bürger betrachten. Konflikt mit Türkei Das hohe Maß an Eu- ropaskepsis überrascht, denn Griechen- lands EU-Mitgliedschaft ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Wie wenige EU-Staaten hat Griechenland von den Strukturhilfen aus Brüssel profitiert. Jetzt gehört das Land zu den größten Nutznießern des EU-Auf- baufonds RRF. Die Distanz zu Europa dürfte vor allem eine Nachwirkung der Kri- senjahre sein, in denen viele Menschen die EU wegen der strikten Sparauflagen als ei- ne Art Kolonialmacht wahrnahmen. Auch im Dauerkonflikt mit dem Nachbarn Türkei wünschen sich viele Griechen mehr Beistand der EU. Ankara macht Griechen- land Hoheitsrechte und Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer streitig. Dabei setzte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder Migranten als Druckmittel ein. Beim Thema Migration fühlen sich grie- chische Politiker, aber auch die Bevölke- rung, von der EU alleingelassen. Einen funktionierenden Mechanismus zur Vertei- lung der Schutzsuchenden auf andere Mit- gliedsstaaten gibt es nicht. Derweil entde- cken Schleuser immer neue Routen. Zu ei- nem Brennpunkt der irregulären Migration ist die kleine Insel Gavdos südlich von Kre- ta geworden. Dort trafen allein in den ers- ten drei Monaten des Jahres 1.186 Men- schen in Booten aus Nordafrika ein – ge- genüber 683 im gesamten Jahr 2023. Die 120 Einwohner fürchten, dass Gavdos ein „griechisches Lampedusa“ wird. Deutsches Spardiktat Auch das Verhält- nis zu Deutschland, ohnehin historisch be- lastet durch die Besatzung im Zweiten Weltkrieg, hat unter der Schuldenkrise ge- litten. Viele Menschen in Griechenland empfanden die Auflagen der Kreditgeber als „deutsches Spardiktat“. Die Folgen der anschließenden Rezession sind immer noch zu spüren. Das Durchschnittsein- kommen stieg zwar in den vergangenen drei Jahren von 1.046 auf 1.258 Euro. Es liegt damit aber nominal immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau von 1.500 Euro. Bei der Kaufkraft belegt Grie- chenland laut Eurostat den vorletzten Platz unter den 27 EU-Staaten. Noch weniger können sich nur die Menschen in Bulga- rien leisten. In den Krisenjahren verlor Griechenland ein Viertel seiner Wirtschaftskraft. 2009 lag das statistische Pro-Kopf-Einkommen bei 95 Prozent des EU-Durchschnitts. Heute sind es, trotz des starken Wachstums der vergangenen drei Jahre nur 67 Prozent. Nach Berechnungen der griechischen Euro- bank Research wird das BIP inflationsbe- reinigt frühestens im Jahr 2033 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Und auch da- nach wird das Land noch jahrzehntelang mit den Folgen der Krise zu kämpfen ha- ben: Die Tilgung der Hilfskredite endet erst Gerd Höhler T im Jahr 2070. Der Autor ist Korrespondent in Athen.

4 EUROPAWAHL 2024 Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 Für viele Europäer ist das EU-Par- lament ein unbekanntes und undurchsichtiges Wesen, eine Black Box. Nicolas Schmit, Ma- rie-Agnes Strack-Zimmermann, Bas Eickhout, Terry Reintke, Walter Baier: Nur wenigen Bürgern sind die Spitzenkandidaten und Spitzenkandidatin- nen vertraut, die bei den Europawahlen um die Gunst der Wähler buhlen. Und noch weniger haben eine klare Vorstellung davon, welche Rolle das EU-Parlament bei der Formulierung von Gesetzen hat, ob- wohl viele dieser Vorgaben unmittelbaren Einfluss auf ihr Leben haben. Die Entschei- dungsverfahren der EU-Gesetzgebung sind den meisten Menschen ungefähr so fremd wie die Spielregeln beim Kricket. Die Tatsache, dass das EU-Parlament vielen Bürgern wenig vertraut ist, trägt dazu bei, dass sich in der öffentlichen Meinung der Eindruck hält, es handele sich um eine schwache Institution, um „kein echtes Parla- ment“. Das jedoch ist eine Unterschätzung. Das EU-Parlament verfügt zwar auch heute noch nicht über alle Kompetenzen, die Parlamente üblicherweise besitzen – allen voran mangelt es ihm am Initiativrecht, al- so dem Recht, eigene Gesetze vorzuschla- gen. Zudem ist das EU-Parlament von ein- zelnen, durchaus wichtigen Entscheidun- gen ausgeschlossen – dann nämlich, wenn sich die nationalen Regierungen entschlie- ßen, eine Verabredung nicht gesetzlich zu fixieren, sondern durch zwischenstaatliche Absprache – wie im Fall des Euro-Rettungs- fonds ESM. Und schließlich gibt es im „or- dentlichen Gesetzgebungsverfahren“ der EU noch immer weiße Flecken – etwa steu- errechtliche Richtlinien, bei denen das EU- Parlament lediglich angehört wird. Trotzdem: Der Einfluss des EU-Parlaments ist in den vergangenen Jahren spürbar ge- stiegen. Es nimmt mittlerweile eine zentra- le Rolle ein, wenn es darum geht, die Re- geln für Wirtschaft und Gesellschaft in Europa festzulegen. Lobbyisten suchen Nähe Ein – wenn- gleich nur anekdotischer – Beleg für diesen Bedeutungsgewinn ist, dass nach Angaben Brüsseler Immobilienmakler Büroräume am Square de Meeus und Place Lux heute begehrter sind als Räumlichkeiten rund um den Rondpoint Schuman. Anders ge- sagt: Lobbyisten internationaler Verbände und Konzerne siedeln sich längst lieber in direkter Nähe des EU-Parlaments an als in unmittelbarer Nachbarschaft der Zentrale der EU-Kommission. Zumindest die Inte- ressensvertreter der Branchen und Unter- nehmen also messen dem EU-Parlament eine gewachsene Bedeutung zu. Für die Annahme, dass das EU-Parlament heute einflussreicher ist als noch vor zehn und erst recht als noch vor 20 Jahren, gibt es aber noch mehr und vor allem belastba- rere Argumente. Erstens ist das EU-Parlament seit 2009 for- mell an viel mehr politischen Entscheidun- gen maßgeblich beteiligt. Denn durch den Vertrag von Lissabon kann es internationa- le Verträge stoppen, über den Haushalt der EU mitentscheiden und ist in mehr Geset- zesverfahren als früher eingebunden, etwa auch, wenn es um Landwirtschaft oder Energiesicherheit geht. Zweitens haben sich die Kompetenzen des EU-Parlaments auch durch Urteile des EU- Gerichtshofs erweitert. So hat der EuGH mit einem Urteil 2022 dafür gesorgt, dass die EU-Abgeordneten jüngst an der Ent- scheidung über den Standort der EU-Anti- Geldwäschebehörde beteiligt wurden. Drittens schließlich – und das ist am wich- tigsten – nutzt das EU-Parlament die aus- geweiteten Spielräume von Jahr zu Jahr in- Wachsender Einfluss MACHTFAKTOR Das EU-Parlament bestimmt inzwischen entscheidend über die Regeln für Gesellschaft und Wirtschaft in Europa mit Gemeinsam mit den Finanzministern hat das EU-Parlament nach der Lehman-Pleite 2010 Vorgaben für Banken, Börsen, Fonds verabschiedet. © picture-alliance//dpa/Maurizio Gambarini tensiver und füllt die formellen Kompeten- zen dadurch mit Leben. Beispiel Handelsverträge: Das EU-Parla- ment hat das Swift-Abkommen über die Weitergabe von Bankdaten ebenso ge- stoppt wie das Acta-Abkommen zur Be- kämpfung von Markenpiraterie. Die EU- Abgeordneten haben damit den nationa- len Regierungen die Stirn geboten. Beispiel Gesetzgebungsverfahren: Die EU- Abgeordneten treten selbstbewusster ge- genüber der EU-Kommission auf, wenn sie deren Gesetzesvorschläge an entscheiden- den Stellen korrigieren – wie zuletzt bei der so genannten EU-Kleinanlegerstrategie. EU-Kommissarin Mairead McGuiness woll- te unbedingt ein Teilverbot für Provisions- beratung einführen. Das EU-Parlament leg- te jedoch im April seine Marschroute für die Schlussverhandlungen in einem Ple- numsbeschluss fest, der kein solches Provi- sionsverbot vorsieht. Beispiel Ernennung der Kommissare: Vor fünf Jahren waren die Rumänin Rovana Plumb und der Ungar Laszlo Trocsanyi als EU-Kommissare von ihren Regierungen nominiert worden. Aber das EU-Parlament lehnte beide ab. Sie mussten durch andere Vertreter aus Rumänien und Ungarn ersetzt werden. Der frühere EU-Kommissar Gün- ther Oettinger hat in seiner Amtszeit oft öf- fentlich beklagt, dass in weiten Teilen der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrsche, EU-Kommissare seien nicht demokratisch legitimiert. Er sei in gleich mehreren Anhö- rungen von Abgeordneten ausgefragt und „gegrillt“ worden, bevor ihn das EU-Parla- ment durchgewunken habe. Im Vergleich zu Bundesministern hätten EU-Kommissa- re, so unterstrich Oettinger bei mehreren Gelegenheiten, „also weit mehr demokrati- sche Hürden und Legitimation.“ Über die Auswahl der Bundesminister habe schließ- lich nie ein Bundestagsabgeordneter abge- stimmt. Beispiel Entschließungsanträge: Immer öf- ter nutzt das EU-Parlament die Option, mit Entschließungsanträgen die EU-Kom- mission zu drängen, Gesetzesvorschläge vorzulegen. So geht der EU-Wiederaufbau- fonds maßgeblich auf die Forderung des EU-Parlaments zurück, einen milliarden- schweren Geldtopf einzurichten, der durch die Aufnahme gemeinsamer Kredite ge- speist werden kann. Beispiel Trilog: Dem EU-Parlament gelingt es zunehmend, dem Ministerrat in den Schlussverhandlungen über Gesetze – im so genannten Trilog – Zugeständnisse ab- zuringen. Das lässt sich anhand des Ver- gleichs der endgültigen Kompromisse mit den Ausgangspositionen ablesen, mit de- nen einerseits Parlament und andererseits Rat in diese Gespräche gegangen sind. Das bestätigen aber auch Repräsentanten aus Ständigen Vertretungen ebenso wie Abge- ordnete. „Im Verfahren zur Erstellung des mehrjährigen Finanzrahmens, also sozusa- gen in der Haushaltsplanung, tritt das EU- Parlament selbstbewusster als früher ge- genüber dem Rat auf und kann mehr durchsetzen“, berichtet beispielsweise der Europaabgeordnete Andresen (Grüne). Rasmus Kritik und Kompromiss Voraussetzung dafür, die größeren politischen Spielräume tatsächlich zu nutzen, ist freilich die Fähig- keit des EU-Parlaments, unter den Fraktio- nen Kompromisse zu schmieden. Wie auch im Ministerrat trifft hier die Be- obachtung zu: Je größer die Krise, desto einfacher funktioniert die Verständigung. So ist es dem EU-Parlament gemeinsam mit den Finanzministern in den 2010er Jahren in Reaktion auf Lehman-Pleite und griechische Finanzierungsprobleme gelun- gen, binnen kürzester Zeit eine große Zahl komplexer Vorgaben für Banken, Börsen, Fonds und Staatshaushalte zu verabschie- den – mitunter zum Leid der Finanzbran- che, die dieses „financial repair“ eher als „Regulierungs-Tsunami“ wahrgenommen hat. Man muss keine Glaskugel haben, um vo- rauszusagen, dass es für das EU-Parlament in der nächsten Legislaturperiode deutlich schwieriger werden dürfte, sich in gleichem Tempo wie damals auf große Gesetzespa- kete zu verständigen. Denn wenn sich die Prognosen im Juni auch nur ansatzweise bewahrheiten, werden die Parteien sowohl rechts der Mitte als auch am äußersten rechten Rand, also rechtskonservative und rechtsextreme Par- teien, ihren Anteil an Sitzen ausbauen. Da- durch wird es für die bürgerlichen Parteien schwieriger, Mehrheiten zu organisieren – zumindest wenn sie weiterhin nicht auf die Stimmen von AfD, niederländischer Freiheitspartei, italienischer Lega, französi- schem Rassemblement National oder öster- reichischer FPÖ angewiesen sein wollen. Bis vor fünf Jahren reichten noch die Stim- men der beiden großen Volksparteien, Christ- und Sozialdemokraten, um Gesetzes- vorlagen zu billigen. In der aktuellen Amts- periode waren zur Mehrheit mehr als zwei Parteien notwendig. Nach Juni könnten es mindestens vier sein. Detlef Fechtner T Der Autor ist EU-Korrespondent und Chefreporter der Börsen-Zeitung. Bloß keine Referenden! Warum die EU sich mit einer Erweiterung schwer tut EU-REFORMEN Die Debatte in Brüssel fokussiert sich auf Änderungen, die nicht ratifiziert werden müssen. Schon das ist schwer genug der Bevor die EU weitere Mitglieder aufneh- men kann, muss sie selbst aufnahmefähig werden – das ist in Brüssel Konsens. Es steht schwarz auf weiß in der Erklärung von Granada, welche die Staats- und Re- gierungschefs im Oktober 2023 beschlos- sen haben. „Parallel“ zu den Reforman- strengungen Beitrittskandidaten „muss die Union für die notwendigen in- ternen Grundlagen und Reformen sor- gen“, heißt es dort. Was aber heißt das konkret? Darüber gehen die Ansichten weit ausei- nander, zwischen den Mitgliedstaaten und erst recht zwischen Rat, Parlament und Kommission. Schon der Versuch von Rats- präsident Charles Michel, den Reformpro- zess mit dem Datum 2030 zu versehen, fand nicht ausreichend Unterstützung. Geringe Bereitschaft Am geringsten ist die Reformbereitschaft im Rat ausgeprägt. Vielen Mitgliedstaaten sitzt die letzte Ver- tragsreform noch in den Knochen. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte man sich für die große Variante entschieden und einen Konvent einberufen. Der sollte sogar eine „Verfassung“ für Europa beschließen. Das Ergebnis scheiterte jedoch in Volksabstim- mungen zweier Gründungsstaaten, Frank- reich und den Niederlanden. Selbst der ab- gespeckte Vertrag von Lissabon brauchte zwei Anläufe, bevor ihm 2009 die Iren zu- stimmten. Der Appetit auf neue Referen- den ist denkbar gering, zumal die Erfah- rung lehrt, dass die Bürger dann nicht über die Substanz abstimmen, sondern über ak- tuelle Themen und Stimmungen. Deutsch- land und Frankreich haben in den vergan- genen Jahren zwar eine gewisse Offenheit für Vertragsreformen signalisiert, jedoch keinerlei Initiativen ergriffen. Dagegen war das Europäische Parlament in der abgelaufenen Legislaturperiode er- picht darauf, eine neue Reformdebatte zu starten, die zu einem Konvent führen sollte. Allerdings ist es ihm nie gelungen, eine politische Dynamik zu entfalten. Erst kam der sogenannte Zukunftskonvent mit Bürgerforen nicht vom Fleck, dann zerstritten sich die Fraktionen über kon- krete Vorschläge. Am Ende stimmte nur eine hauchdünne Mehrheit der Abgeord- neten für einen Bericht zu Vertragsände- rungen. Nach der Europawahl dürfte die Position des Parlaments noch schwächer werden, wenn die europaskeptischen und -feindli- chen Kräfte weiter zulegen. In der Praxis fokussiert sich die Debatte deshalb auf Änderungen, die unterhalb der Schwelle von ratifikationspflichtigen Ver- tragsreformen bleiben. Dafür gibt es zwei Optionen. Zum einen könnten die Staaten notwendige Anpassungen in den Beitritts- verträgen festschreiben, die mit neuen Mit- gliedern geschlossen werden. Diese Verträ- ge müssen zwar auch ratifiziert werden, in der Regel allerdings nicht durch Referen- den – eine wichtige Ausnahme ist Frank- Mehr Mitglieder bedeuteten auch mehr Abgeordnete. © picture-alliance/Panama Pictures reich. Zum anderen könnten die Staaten die Passerelle- oder Brückenklauseln im be- stehenden Vertrag nutzen. Ihre tatsächliche Anwendung erfordert allerdings Einstim- migkeit im Rat. In Deutschland müssten Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittel- Mehrheit zustimmen. Diskutiert wird die Anwendung der Passe- relle-Klausel vor allem in Bezug auf die Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen auf jene etwa 20 Prozent von Beschlüssen, die bisher einstimmig fallen müssen. Das betrifft die Gemeinsame Außen- und Si- cherheitspolitik, etwa Sanktionen, Erweite- rungsverhandlungen, Eigenmittelbeschlüs- se und die Harmonisierung von Steuern. Deutschland, Frankreich, Italien, die Nie- derlande und einige weitere Staaten drin- gen auf eine Ausweitung, damit die Euro- päische Union handlungsfähiger wird, zu- mal wenn sie weiter wächst. Doch sperren sich insbesondere kleine Staaten dagegen, weil sie fürchten, überstimmt zu werden. Lindern könnte man diese Sorgen, indem man Fragen, die den Kern des nationalen Interesses betreffen, ausnimmt – allerdings stellt sich die Frage, wie dies definiert wer- den soll. Außerdem könnte man Zwischen- schritte im Erweiterungsprozess, wie die Er- öffnung und Schließung einzelner Kapitel, mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, für die Eröffnung und den Abschluss der gesamten Verhandlungen aber weiter Ein- stimmigkeit festschreiben. Ein Sonderfall ist das Artikel-7-Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsland. Bisher kann ein Mit- gliedsland ein anderes vor möglichen Sanktionen schützen. Das hat sich als dys- funktional erwiesen, doch ist kaum damit zu rechnen, dass Staaten ihr Veto aus der Hand geben. Eine weitere Reformbaustelle betrifft die Größe und Arbeitsfähigkeit der Institutio- nen. Die EU-Kommission sollte schon mit dem Vertrag von Lissabon so verkleinert werden, dass nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten einen Kommissar stellen. Das haben die Staaten jedoch 2009 außer Kraft gesetzt, um die Ratifizierung in Irland zu ermöglichen. Das Ergebnis ist eine Kommission mit koordinierenden Vizeprä- sidenten und Kommissaren mit unter- schiedlich großen Geschäftsbereichen. Diese Differenzierung müsste noch zuneh- men, wenn die Union auf bis zu 36 Mit- glieder wächst. Wenn aber nicht alle Stimmrecht haben sollen, müsste man doch wieder in den Vertrag eingreifen. Zur Debatte steht auch die Größe des EU- Parlaments, wenn neben den sechs West- balkanstaaten die Ukraine, Moldau und Georgien aufgenommen werden. Vertrag- lich ist seine Größe auf 750 Mitglieder be- grenzt; nach der nächsten Wahl werden es 720 sein. Allein der Ukraine als fünftgrößtem Mit- gliedsland würden rund 50 Sitze zustehen, insgesamt müssten mehr als 80 neu verteilt werden. Wie das geschehen soll, ist unklar. Soll es dabei bleiben, dass jeder Staat min- destens sechs Abgeordnete hat? Wird die Stimmenungleichheit weiter zunehmen? Schon jetzt entfallen auf einen deutschen Abgeordneten zehnmal mehr Stimmen als auf einen maltesischen. Reformfahrplan Die Bundesregierung dringt darauf, dass beim Europäischen Rat Ende Juni ein Fahrplan für EU-Reformen vereinbart wird. Doch bleibt abzuwarten, wie konkret der ausfällt. Erfahrene EU-Di- plomaten rechnen damit, dass die Staaten auf Zeit spielen und unangenehme Ent- scheidungen so lange wie möglich vor sich herschieben werden. Das dürfte auch not- wendige Reformen in der Agrar- und Kohä- sionspolitik betreffen. Sie müssten im Zuge der nächsten finanziellen Vorausschau für die Jahre 2028 bis 2034 behandelt werden, wenn die Beitrittsperspektiven ernst ge- meint sind. Vor der Wahl war aber nicht einmal die Kommission bereit, dieses hei- ße Eisen anzufassen. Thomas Gutschker T Der Autor ist politischer Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Brüssel.

Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 EUROPAWAHL 2024 5 Wähler stehen bei der Europawahl i 2019 vor einem Wahllokal in Dresden an. Bei der bevorstehenden Europawahl sind allein in Deutschland fast 65 Millionen Menschen wahlberechtigt. Dabei ist das Wahlrecht in den 27 Mit- gliedsstaaten der Europäischen Union unterschiedlich ausgestaltet. © picture-alliance/dpa/ZB/Robert Michael WAHLRECHT I Die EU-Wahl erfolgt nach 27 nationalen Regeln. Eine Harmonisierung ist kaum in Sicht Großer Reformbedarf S chon das Datum ist auf- schlussreich. Zwischen dem 6. und 9. Juni werden die EU- Bürger bei der Europawahl ihre Stimme abgeben. Den Auftakt machen die Niederländer an ei- nem Donnerstag, es folgen die Iren am Freitag. Lettland, Malta und die Slowakei stimmen am Samstag ab. In Deutschland und allen andern Ländern wird dann am Sonntag gewählt. Das gestaffelte Verfahren zeigt: In Wirklichkeit findet nicht ein Urnengang statt, sondern 27 nationale Ab- stimmungen – nach weitge- hend nationalen Regeln. 45 Jahre nach der ersten Direktwahl der Europa-Ab- geordneten 1979 läuft die Abstimmung in den EU- Staaten höchst unterschied- lich ab. Zögerliche Reform- versuche haben daran we- nig geändert. „In den ver- gangenen 20 Jahren hat es wenig Bewegung in Rich- tung eines einheitlichen Wahlmodus gege- ben“, Luise Quarisch vom Jacques Delors Centre in Berlin. Die Hürden zu einem verbesserten, ein- heitlichen Verfahren sind hoch: Alle 27 EU-Staaten müssten zustimmen, ebenso das Europäische Parlament (EP). Und der politische Wille für eine grundlegende Re- form fehlt in den nationalen Hauptstäd- ten. Die etablierten Parteien profitieren vom bestehenden System und messen den resümiert demokratischen Defiziten offenbar keine große Bedeutung bei. Die Europa-Abgeordneten selbst sehen Be- darf für Anpassungen. 2022 stimmten sie mehrheitlich für eine Generalüberholung der Regeln. Sie forderten den 9. Mai, den Schuman Tag, als einheitliches Wahldatum in der gesamten EU. Sie machen sich dafür stark, dass Menschen einheitlich ab einem Alter von 18 Jahren für das EU-Parlament kandidieren dürfen. Sie setzen sich zudem dafür ein, dass sich Männer und Frauen auf den Listen der Parteien abwechseln. In einzelnen Ländern waren Frauen im EP stark unterre- präsentiert. ent- sandte zeitweise nur Män- ner, ehe 2022 eine Christ- demokratin nachrückte. Änderungswünsche Zwei der EU-Abgeordneten stie- ßen bei den nationalen Re- gierungen auf besonders wenig Zustimmung: Das Spitzenkandidatenprinzip Zypern und die Wahl von 28 Europa-Abgeordne- ten über europäische Listen. Offiziell äu- ßerten sich die Mitgliedstaaten zu den Re- formwünschen nicht. Das EP könnte daher eine Untätigkeitsklage gegen den Rat der EU einleiten. Passiert ist das nicht. Die pas- sive Haltung der EU-Staaten hat mit Machterhalt zu tun. „Die Mitgliedstaaten wollen sich nicht hineinreden lassen“, sagt der EU-Abgeordnete Damian Boeselager von der paneuropäischen Partei Volt. Der politische Wille für eine grundlegende Reform des Wahlmodus fehlt in den Hauptstädten. der von Das Spitzenkandidatenprinzip und die Zweitstimme für Kandidaten von einer eu- ropäischen Liste illustrieren das besonders deutlich. Die Staats- und Regierungschefs wollen sich das Recht vorbehalten, den Kommissionspräsidenten in einem Hinter- zimmerdeal selbst zu bestimmen. Wahlsie- ger Manfred Weber (CSU) hatte sich 2019 schon im Berlaymont gewähnt, aber der französische Präsident Emmanuel Macron lehnte ihn ab und installierte stattdessen Leyen Ursula (CDU). Damit kam eine Politikerin aus der europäi- schen Parteienfamilie mit der stärksten Fraktion im EP an die Spitze der EU- Kommission, ohne Wahl- kampf geführt zu haben. Auch diesmal tritt sie bei der Europawahl nicht an, führt aber den Titel der EVP-Spitzenkandidatin. Die transeuropäische Liste für die Europawahl hat der französische Präsident Ma- cron dagegen als einer der wenigen Staats- und Regierungschefs befürwortet. 2017 hatte Macron angeregt, die EP-Sitze, die durch den Brexit frei würden, über eine ge- meinsame europäische Liste zu verteilen. Dadurch sollte ein wirklich europäischer Wahlkampf entstehen, eine gemeinsame Debatte über Entscheidungen, die in der EU fallen. In der Realität spielen bei der Europawahl in den Mitgliedstaaten EU- Themen oft kaum mehr eine Rolle. Eine europäische Liste hätte aber Konkurrenz zu nationalen Parteien geschaffen. Vor allem die europäischen Christdemokraten sehen die Idee skeptisch. Mit Elan haben die etablierten Parteien da- gegen die Einführung einer Mindestklausel betrieben. 2014 hatte Frank-Walter Stein- meier (SPD), damals noch Außenminister, offen seinen Unmut gezeigt, dass der Sati- riker Martin Sonneborn ins EP einzog und ankündigte, sein Mandat nach einem Mo- nat niederzulegen. Stein- meier sah die „Juxpartei“ Sonneborns als Anlass, eine einzuführen. Sperrklausel Der SPD-Europaabgeord- nete Jo Leinen hat dies mit Nachdruck verhandelt bei der Wahlrechtsreform 2018. Bei der Europawahl 2029 wird es in Deutsch- land nun eine Zweipro- zenthürde geben, wie der Bundestag vergangenes Jahr beschloss. Insgesamt entsteht der Ein- druck, dass etablierte Parteien das Feld nicht für Neuankömmlinge öffnen wollen. „Sie reagieren extrem allergisch auf Wettbe- werb“, sagt der EU-Abgeordnete Damian Boeselager. Bei den Vorbereitungen der Eu- ropawahl 2024 beobachten die Mitglieder seiner Volt-Partei erneut, wie schwierig es ist, Kandidaten überhaupt nur aufzustellen – auch weil die Regeln national so unter- schiedlich gestaltet sind. In Deutschland ist es noch relativ einfach, als Kandidat bei EU-Themen spielen bei der Europawahl in den Mitglied- staaten oft kaum mehr eine Rolle. Ursula von der Leyen Spitzenkandidatur für eine zweite Amtszeit Sie hat die besten Chancen auf einen Verbleib im Amt der EU-Kommissions- chefin: Ursula von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit an. Nur geht die CDU- Politikerin, die das Magazin „Forbes“ als mächtigste Frau der Welt bezeichne- te, diesmal immerhin als Spitzenkandi- datin der christdemokratisch-konserva- tiven Europäischen Volkspartei (EVP) ins Rennen, wenngleich sie dabei nicht für ein Mandat im Europäischen Parla- ment kandidiert und sich ihr Name so- mit auch auf keinem Wahlzettel findet. 2019 war von der Leyen nicht durch die Europawahl gekürt worden, sondern vom Kreis der EU-Staats- und Regie- rungschefs. „Unser Markenzeichen ist, dass wir uns darum kümmern, was die Menschen be- wegt“, fasste sie bei der Vorstellung des Europa-Programms der Union im März in Berlin zusammen. Von 2003 bis zu ihrem Wechsel nach Brüssel an die Spit- ze der Kommission stand sie Ministe- rien vor. Es ging los mit dem nieder- sächsischen Landesressort für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, doch dann rief rasch die Bundespolitik: 2005 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dann 2009 der ins Arbeitsressort und später Wechsel d r a a g d O e i r a M Ursula von der Leyen 2013 ins Bundesverteidigungsministeri- um. Das Elterngeld und ein Modernisie- rungsschub bei der Bundeswehr sind unter anderem aus dieser Zeit zu verbu- chen. Als Kommissionschefin engagier- te sie sich für einen neuen Green Deal in der Landwirtschaft, den sie allerdings nach Widerstand aus den EU-Ländern stark stutzte. Und dann ist da noch der Krieg in der Ukraine, der von der Leyen von Beginn an beistand. Ein Stück weit war der Umzug nach Bel- gien eine Heimkehr. Von der Leyen wurde in dem Land geboren, denn ihr Vater Ernst Albrecht arbeitete einst bei der EG, am Ende bis 1971 als General- direktor; später wurde er für viele Jahre Ministerpräsident in Niedersachsen. Po- litik sog von der Leyen von der Kindheit an auf. Die passionierte Reiterin studier- te anfangs mitunter Archäologie und sattelte dann um auf Medizin, arbeitete als Ärztin und machte ihren Master in Public Health; dann begannen die poli- tischen Ämter ihr zuzufliegen. Dabei sind von der Leyens Erfahrungen mit öffentlichen Wahlkampagnen nicht die besten. Bundestagsabgeordnete wur- de sie 2009, 2013 und 2017 über die Landesliste, den Wahlkreis Stadt Han- nover II gewannen andere. 2019 kandi- dierte sie bei der Europawahl nicht. Diesmal also als EVP-Spitzenkandida- tin. Die EVP-Mitglieder CDU und CSU treten mit dem Motto „Freiheit, Sicher- heit und Wohlstand“ an. Heißt: Freiheit muss beschützt werden, und zwar durch eine gestärkte Wehrfähigkeit in der EU. Illegale Migration soll begrenzt und Wohlstand vor allem durch Wettbe- werbsfähigkeit untermauert werden. „Wir stehen für den Frieden und den Wohlstand, den Europa uns ermög- licht“, sagte sie im März in Berlin. In Sa- chen Wehrfähigkeit schlägt von der Ley- en vor, einen EU-Verteidigungskommis- sar zu etablieren. „Wir müssen massiv in Europas Sicherheit investieren.“ Letzten Endes entscheiden vielleicht nicht die Wähler, ob von der Leyen ihr Amt behält. 2019 setzten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanz- lerin Angela Merkel sie durch. Auch diesmal werden die EU-Staats- und Re- gierungschefs ein gehöriges Wörtchen mitreden wollen. Jan Rübel T d r a a g d O e i r a M a d I / x i p n a c S u a z t i R / e c n a i l l a e r u t c i p © der Europawahl anzutreten, Unterschriften von 0,01 Prozent der Wahlbevölkerung ge- nügen. In Italien benötigen Parteien, die noch nicht im Parlament vertreten sind, dagegen gleich 54 Mal so viele Unterschrif- ten. Und in Frankreich müssen Kandidaten Stimmzettel selbst drucken. Die Kosten da- für stellen einen klaren Nachteil für kleine Parteien dar. Volt hat sich in Frankreich von einer Spedition einen Kostenvoran- schlag für die Logistik machen lassen. „Der Preis lag bei einer Million Euro“, sagt Boe- selager. Fehler im System Über solche Probleme reden die etablierten Parteien nicht gerne. Dabei würden Reformen die europäische Demokratie stärken. Die Fehler im System machen es aktuell den Kritikern leicht, die EU als undemokratisch abzustempeln. Er- schwerend kommt hinzu, dass Europa-Ab- geordnete je nach Land unterschiedlich viele Wähler vertreten. Deutschland mit fast 85 Millionen Einwohnern stellt 96 Ab- geordnete, Malta mit einer halben Million Einwohner stellt sechs Abgeordnete. Wenn die Europawahl sich für die Wähler nicht wirklich europäisch anfühlt und gleichzeitig die Repräsentation unfair er- scheint, könnte das „den Euroskeptikern in die Hände spielen“, befürchtet Luise Qua- risch vom Delors Centre. Nutznießer könn- ten Kräfte am Rande des politischen Spek- trums sein. Silke Wettach T Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Brüssel. Stimmabgabe schon mit 16 Jahren Der Bundestag wirkt mit WAHLRECHT II Erstmals gilt bei einer Europawahl ein abgesenktes Mindestalter BETEILIGUNG Die EU-Rechte des deutschen Parlaments WAHLBERECHTIGTE In Deutschland wer- den bei der Europawahl 2024 nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes bis zu 64,9 Millionen Deutsche und weite- re Staatsangehörige der EU wahlberechtigt sein, davon 33,3 Millionen Frauen und 31,7 Millionen Männer. Zu ihnen zählen neben schätzungsweise 60,9 Millionen Deutschen rund 4,1 Millionen Staatsange- hörige aus den übrigen EU-Mitgliedstaa- ten, die in der Bundesrepublik wohnen. Sie können entscheiden, ob sie ihr Wahl- recht in Deutschland oder in ihrem Her- kunftsstaat ausüben. In diesem Jahr betrifft das JUNGWÄHLER Unter den Wahlberechtig- ten befinden sich in der Bundesrepublik erstmals auch Jugendliche im Alter von 16 oder 17 Jahren, nachdem der Bundestag das bisherige Mindestalter von 18 Jahren für das aktive Wahlrecht bei Europawahlen im November 2022 entsprechend gesenkt hat. rund 1,3 Millionen deutsche Jugendliche. Insge- samt gehören nach Angaben der Bundes- wahlleiterin etwa 4,8 Millionen potenzielle deutsche Erstwähler zu den Wahlberechtig- ten; hinzu kommen bis zu 0,3 Millionen junge Unionsbürger. Die größte Altersgruppe der Wahlberechtig- ten stellen in Deutschland aber nicht diese zusammen 5,1 Millionen Erstwähler, son- dern die 30- bis 49-Jährigen mit insgesamt 19,3 Millionen, gefolgt von 18,6 Millionen im Alter von 65 Jahren und mehr vor 17,4 Millionen 50- bis 64-Jährigen und 9,5 Mil- lionen 16- bis 29 Jährigen. PARTEIEN UND KANDIDATEN Seit 1979 wird das Europäische Parlament von den Bürgern direkt gewählt; bei der zehnten Direktwahl am 9. Juni dieses Jahres können in Deutschland zwi- sie schen 35 Parteien und sons- tigen politischen Vereini- gungen wählen, die vom Bundeswahlausschuss mit Listen für alle oder nur für einzelne Bundesländer zu- gelassen wurden. Darunter befinden sich auch die 14 schon bisher im Europa- parlament beziehungsweise acht derzeit im Bundestag vertretenen Parteien. Insgesamt bewerben sich in Deutschland 1.413 Kandidatinnen und Kandidaten um ein Mandat im Europaparlament. Darunter sind laut Bundeswahlleiterin 486 Frauen, was einem Anteil von 34,4 Prozent ent- spricht. WAHLSYSTEM Jeder Wähler hat bei der Europawahl eine Stimme. Wie in allen an- deren EU-Staaten werden die Europaabge- ordneten nach den Grundsätzen der Ver- hältniswahl gewählt. Eine Sperrklausel gibt es seit der Europawahl 2014 nicht mehr. Ab der übernächsten Wahl 2029 soll nach einem Bundestagsbeschluss vom vergange- nen Juni eine Mindesthürde von zwei Pro- zent für den Einzug ins Eu- ropäische Parlament gel- ten. als MANDATE Mit 96 Abge- ordneten wird Deutsch- land bevölkerungs- reichster EU-Mitgliedsstaat bei der Wahl wieder die meisten der dann 720 EU- Parlamentarier entsenden. Das gilt indes nur mit Blick auf die absoluten Zahlen, denn wie im Bun- desrat sind auch im Euro- paparlament große Länder im Verhältnis schwächer vertreten als kleine. So kommt die Bundesrepublik auf etwas mehr als ei- nen Sitz pro einer Million Einwohner, Mal- ta mit seinen sechs Mandaten für knapp 550.000 Einwohnern dagegen rein rechne- risch auf 14 Sitze. Helmut Stoltenberg T „In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit“ – so steht es in Artikel 23 des Grundgesetzes. Danach hat die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat „umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ zu unterrich- ten, dem Bundestag vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der EU Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und diese bei den Verhandlungen zu berücksichtigen. Näher ausgestaltet sind diese Rechte in den Begleitgesetzen zum 2009 in Kraft getrete- nen EU-Vertrag von Lissabon. Dabei han- delt es sich um das „Gesetz über die Zu- sammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“ (EUZBBG) und das nicht weniger sperrig klingende „Ge- setz über die Wahrnehmung der Integrati- onsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“ (IntVG), kurz „Inte- grationsverantwortungsgesetz“. Nach dem EUZBBG muss die Bundesregie- rung dem Parlament insbesondere alle Kommissionsvorschläge für EU-Verordnun- gen und -Richtlinien, Berichte, Mitteilun- gen, Grün- und Weißbücher sowie Vor- schläge für Beschlüsse des Rates zuleiten und über die Planungen und Beratungen dieser Entwürfe auf EU-Ebene informieren. Auch Einzelheiten zur Mitwirkung des Bundestages durch Stellungnahmen sind in dem Gesetz geregelt. Nach dem IntVG haben Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten ihre In- tegrationsverantwortung wahrzunehmen und über Vorlagen „in angemessener Frist“ zu beraten und beschließen. Die Bundesre- gierung kann im Rat der EU bei bestimm- ten Vorhaben mit herausgehobener Inte- grationsverantwortung nur auf Grundlage eines zuvor verabschiedeten Gesetzes be- ziehungsweise durch Beschluss des Bun- destages abschließend tätig werden. Auch enthält das „Integrationsverantwortungsge- setz“ Regelungen zur „Subsidiaritätsrüge“ und „Subsidiaritätsklage“, mit denen der Bundestag Einfluss auf den Gesetzgebungs- prozess der EU nehmen kann, wenn er sei- ne Kompetenzen durch die Europäische Union verletzt sieht. Zentrales Gremium der Mitwirkung des Bundestages ist sein im Grundgesetz-Arti- kel 45 verankerter Ausschuss für die Ange- legenheiten der EU. Er ist unter anderem für alle Grundsatzfragen der europäischen Integration zuständig und kann vom Bun- destag ermächtigt werden, dessen Rechte gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesre- gierung wahrzunehmen. sto T Die größte Altersgruppe der Wahl- berechtigten stellen die 30- bis 49- Jährigen.

6 EUROPAWAHL 2024 Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 Brüsseler Bürokratie SUBSIDIARITÄT Der Königsweg beim Bürokratieabbau heißt Digitalisierung, dadurch könnten Genehmigungsverfahren einfacher und schneller werden Katarina Barley »Mein Leben ist sehr stark mit Europa verbunden« Die SPD sah schon mal bessere Zeiten, da kommt ihr eine „Allzweckwaffe“ gerade recht. Katarina Barley, neben dem Luxembur- ger Nicolas Schmit Spitzenkandidatin der eu- ropäischen Sozialdemokraten, trägt diesen Spitznamen zurecht. In wenigen Jahren sam- melte die geborene Kölnerin Erfahrungen in mehreren Spitzenämtern – und ist nun zum zweiten Mal das SPD-Gesicht für die Europa- wahl seit 2019. „Mein Leben ist sehr stark mit Europa ver- bunden“, sagt Barley. Ihr Vater: Brite. Ihr Ehe- mann: ein niederländischer Basketballtrainer. Und durch den spanisch-niederländischen Ex- Mann, den sie beim Studium in Paris kennen- lernte, haben ihre zwei Söhne Großeltern mit vier verschiedenen Nationalitäten. Schließlich ist Barley an ihrem Wohnort Trier nah an Lu- xemburg, Frankreich, Belgien. Klare Abgrenzung In den aktuellen Wahl- kampf zieht Barley mit einer klaren Abgren- zung von CDU und CSU. „Die SPD verbindet wirtschaftliches Wachstum, soziale Gerechtig- keit, Arbeitnehmerrechte und Klimaschutz“, sagt sie über das, was die SPD Europa geben könne. „Das können wir besser als alle ande- ren Parteien.“ Und was machen die anderen? „Wir stellen fest, dass die Konservativen im Europawahlkampf eine Tonalität anschlagen, d n r e b n e n n e V f l o R / a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © a Katarina Barley die eher die Vorurteile über Europa betont, anstatt die Vorzüge“, sagte Barley im Berliner „Willy-Brandt-Haus“ in der Partei-Zeitung „Vorwärts“. Noch während ihres Studiums trat die Kölnerin 1994 der SPD bei. Barley amtiert derzeit als Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Besonders gegen Rechtsstaatlichkeits-Verstöße engagierte sie sich und legte sich etwa mit Ungarns Minis- terpräsident Viktor Orbán an; sie forderte ei- nen härteren Umgang mit der Budapester Re- gierung als ihn die EU-Kommission letztlich einschlug. „Wir leben in einer Zeit, in der die- se Europäische Union massiv attackiert wird“, sagte Barley im „Vorwärts“. Deshalb bleibe es im Wahlkampf ganz klar das Bestre- ben der Sozialdemokratie, „herauszustellen, warum diese Europäische Union wichtig ist, warum sie existenziell ist für den Wohlstand in Deutschland“. Hoffnungsträgerin Für die SPD verkörpert Barley eine Hoffnung, weil in ihrer europapo- litischen Arbeit kein Plan B vorgesehen ist. 2019 gab sie ihr Amt als Bundesjustizministe- rin auf, um in den EU-Wahlkampf zu ziehen und machte auch klar, dass dies unabhängig vom Ausgang der Wahl geschehe. Da war sie erst seit sechs Jahren auf der großen politi- schen Bühne. 2013 zog Barley in den Bundes- tag ein, zwei Jahre später machte der damali- ge SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sie zur Generalsekretärin. „Im Bundestag bin ich gleich in den Europa-Ausschuss gegangen“, erinnert sie sich. 2017 dann wurde sie Bun- desfamilienministerin, übernahm übergangs- weise auch das Bundesarbeitsministerium und wechselte ein Jahr später ins Amt der Bundesjustizministerin. Dies knüpfte an ihre bisherige Laufbahn an: Die Volljuristin hat als wissenschaftliche Mit- arbeiterin am Bundesverfassungsgericht ge- arbeitet und dann Erfahrungen als Richterin am Landgericht und am Amtsgericht gesam- melt. Seit September 2022 steht Barley dem Arbeiter-Samariter-Bund Deutschlands vor. Bei den Europawahlen im Jahr 2019 fuhren die Sozialdemokraten mit Barley nur magere 15,8 Prozent ein. Und man ahnt, dass es auch dieses Mal schwierig wird. Bei einer Veran- staltung in Freiburg im Breisgau sagte sie dem Sender SWR, auch wenn der Rechtsruck in vielen Ländern der Europäischen Union nicht mehr zu verhindern sei, jetzt könnten die Menschen in ganz Europa beeinflussen, wie sich das Europäischen Parlament zusam- mensetzt. Deswegen sei es dieses Mal beson- ders wichtig, wählen zu gehen. Jan Rübel T Unternehmen wünschen sich weniger Bürokratie, vor allem bei der sogenannten Identifikations- und Dokumentationspflicht. © picture-alliance/Zoonar/Chalirmpoj Pimpisarn »Für jeden einzelnen Ladepunkt braucht es einen eigenen Förderantrag.« Verband kommunaler Unternehmen die von des Glaubt man den zahlreichen Kritikern angeblich maßlosen Regulierungsei- fers der Europäischen Uni- on, dann handelt es sich beim Brüsseler Europavier- tel, dem Amtssitz von Parlament, Kommis- sion und Rat der 27 Mitgliedsstaaten, um das Habitat eines wahren Bürokratiemonsters. Einer gefräßigen Paragrafenkra- ke, Belgiens Hauptstadt aus das Regi- ment über die nationalen Verwaltungen und Unter- nehmen übernommen hat. Die bis in kleinste Details hinein bestimmt, wie Wirt- schaft und Gesellschaft in der EU zu funktionieren haben. Allenthalben kla- gen auch in Deutschland viele Betriebe, Selbstständi- ge und Verbände über den „Bürokratie- Wahnsinn“ auf dem europäischen Binnen- markt – zu Recht? Zunächst zeigt ein Vergleich, dass der ver- meintlich monströse Beamtenapparat in Brüssel die Dimensionen sprengt, die in deutschen Amtsstuben üb- lich sind: Die EU-Kommission beschäftigt etwa 32.000 Bedienstete, die bayerische Landeshauptstadt München allein sogar 40.000. Dennoch ist der bürokratische Output, den das Europäische Parlament und der Europäische Rat im vergangenen Jahr produziert haben, beachtlich: Allein 2023 wurden von diesen beiden Institutio- nen 330 Basisrechtsakte und 165 Ände- rungsrechtsakte erlassen, nicht zu verges- sen jene mehr als 1.000 Durchführungs- und sonstigen Rechtsakte der EU-Kommis- sion, die von den Mitgliedsländern umge- setzt werden müssen, obwohl die Kommis- sion – anders als Parlament und Rat – über kein eigenes Initiativrecht verfügt. Das Prinzip „One in, One out“, das 2022 einge- führt worden war, um den Bürokratieauf- wand in Europa einzuhegen, greift in der Praxis (noch) nicht. Längst wird nicht für jede neue Vorschrift eine bestehende Rege- keineswegs lung abgeschafft, wie es die „Agenda zur Besseren Rechtsetzung“ eigentlich vorsieht. Kein Wunder, dass fast 43 Prozent der Bun- desbürger laut einer Studie des Bonner In- stituts für Mittelstandsforschung „Wut, Zorn und Aggressivität“ verspüren, wenn sie an den von bürokratischen Auflagen verursachten Zeit- und Kostenaufwand denken – unabhängig da- von, wer die Vorschriften erlassen hat. Tatsächlich ist ja auch der Bund nicht ge- rade untätig, was Genehmi- gungen oder Kontrollen an- langt: Mit 1.800 Bundesge- setzen und mehr als 50.000 Einzelnormen weist Deutschland im internatio- nalen Vergleich eine der höchsten Regulierungsdich- ten auf, die von Ländern und Kommunen initiierten Vorschriften kommen noch dazu. Und aus Brüssel drohen neue Belas- tungen: Die Ausweitung der europäischen Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit führen dazu, dass ab 2025 etwa 13.000 deutsche Unternehmen schrittweise berichtspflichtig werden. Die Betroffenen müssen sich da- nach auf mehr als 1.000 Punkte einstellen, die sie zu erheben und zu dokumentieren haben. „Dieser Bürokratismus“, fürchtet Ulrich Stoll, Familienunternehmer aus Ba- den-Württemberg, „hemmt das Wachs- tum“. Die Mehrkosten für eine GmbH mit weltweit 20.000 Lieferanten schätzt Stoll auf zwei Millionen Euro. Proteste gegen Bürokratie In jüngster Zeit tönten die Proteste gegen zu viel Büro- kratie besonders schrill aus der Landwirt- schaft. Parallel zu seinen öffentlichen De- monstrationen überall in der Bundesrepu- blik lancierte der Deutsche Bauernverband einen 17 Seiten umfassenden Forderungs- katalog zur „Entlastung der Landwirtschaft und zum Bürokratieabbau“. Die Kritik der Agrarier richtet sich etwa gegen Pläne der EU-Kommission „zur massiven Ausweitung der Erhebung von Kriterien und Daten bei den landwirtschaftlichen Betrieben“, gegen das geltende EU-Recht zu „Stilllegung und Brachen“ sowie zu „Doppelregelungen“ im Fach- und Umweltrecht. Holger Hennies, Landwirt aus Niedersachsen, hält zum Bei- spiel die europäischen Vorgaben zum Tier- transport für „nicht praktikabel“. So sollen „die Transportzeiten von Tieren zur Schlachtung auf neun Stunden begrenzt werden“, inklusive Be- und Entladezeit. Hennies: „Das ist unrealistisch, denn es gibt in Deutschland schon heute Regionen, in denen kein Schlachtbetrieb in acht be- ziehungsweise neun Stunden erreicht wer- den kann.“ So vielfältig, wie die Strukturen der bun- desdeutschen Landwirtschaft sind, so diffe- renziert fallen auch die Urteile über Brüsse- ler Direktiven aus. Jürgen Jakobs, der im brandenburgischen Beelitz einen großen Spargelhof betreibt, lobt grundsätzlich die „erheblichen Vorteile“, die der gemeinsame Binnenmarkt in Europa den Bauern bringt. Dennoch nennt er „die überbordende Bü- rokratie“ ein erhebliches Problem. Im be- trieblichen Alltag ertrinke er zuweilen „in Anforderungen, die teils nicht nachvoll- ziehbar sind“, meint Jakobs. Beispiele sei- en die unterschiedlichen Pflanzenschutz- auflagen oder die oft undurchsichtigen EU-Subventionen, die er am liebsten ab- schaffen würde. Manchmal allerdings, so gibt der Obst- und Gemüsebauer zu be- denken, wünsche er sich sogar mehr ge- meinsamen Markt, also auch mehr euro- päische Harmonisierung – etwa beim Mindestlohn, der Sozialversicherung oder den Bewirtschaftungsvorgaben. Tatsächlich haben die Landwirte den zu- ständigen Bundesminister Cem Özdemir (Grüne) auf ihrer Seite, wenn es um den „Abbau unnötiger Bürokratie“ geht: „Wir wollen die Landwirtschaft vom Zuviel an Bürokratie befreien und schlanke, einfache und effiziente Regelungen“, erklärte Özde- mir jüngst. Doch was heißt das in der Pra- xis? Parteifreunde des Schwaben warnen davor, dass „Bürokratieabbau mit Stan- dardabbau verwechselt“ werde. Das sei ökologisch „der falsche Weg“. Der Duis- burger Grünen-Bundestagsabgeordnete Fe- lix Banaszak, der früher als Referent für Europa-Parlamentarier seiner Partei arbei- tete, verlangt deshalb, dass „Klimaschutz für die Unternehmen lukrativ und einfach gemacht werden“ müsse. Nur dann könne „Europa als klimaneutraler Wirtschafts- standort im globalen Wettbewerb mithal- ten.“ Das neu gewählte EU-Parlament müs- se sich sofort an diese riesige Herausforde- rung im Rahmen des „Green Deal“ ma- chen. Verwaltungsprozesse beschleunigen Für viele Experten heißt der Königsweg beim Bürokratieabbau Digitalisierung. Dadurch könnten Genehmigungsverfahren verein- facht und Verwaltungsprozesse beschleunigt werden. So setzen auch die Steuerberater zunehmend auf „digitale Möglichkeiten“ ih- rer Mandanten, den europäischen Binnen- markt zu nutzen. Allerdings fehle für mög- lichst unbürokratische Abläufe in der EU noch die erforderliche Planungs- und Rechtssicherheit nicht zuletzt für angehende Steuerberater, kritisiert Torsten Lüth, Präsi- dent des Deutschen Steuerberaterverbandes. > STICHWORT Subsidiaritätsprinzip > Subsidiarität bedeutet, dass Eigenver- antwortung vor staatliches Handeln ge- stellt wird und die Eigenleistung und die Selbstbestimmung des Individuums und der Gemeinschaften – beispielsweise der Kommunen – gefördert werden. Das Subsidiaritätsprinzip besagt daraus fol- gend, dass höhere staatliche Institutio- nen nur dann (aber auch immer dann) regelnd eingreifen sollten, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer klei- neren Gruppe oder einer niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. An- ders gesagt bedeutet das, dass die Ebe- ne der Regulierungskompetenz immer so niedrig wie möglich und so hoch wie nö- tig angesiedelt sein sollte. nki Ziemlich konkret sind auch die Forderun- gen, die eine verwandte Berufsgruppe an die künftige EU-Kommission stellt. Der Düssel- dorfer Rechtsanwalt Dirk Uwer wünscht sich, dass sich Brüssel „einmal eine ganze Legislaturperiode nur der Abschaffung von bürokratielastigen Rechtsvorschriften wid- met“. Davon gebe es nämlich einfach zu vie- le, besonders im Umweltrecht. In Uwers Wirtschaftskanzlei kümmert sich zum Beispiel „ein mehrköpfiges, hochqua- lifiziertes Team mit hohem Aufwand um die Erfüllung der geldwäscherechtlichen Sorgfalts-, Identifizierungs- und Dokumen- tationspflichten“. In zwei Jahrzehnten sei seine Sozietät „trotz dieser Anstrengungen noch auf keinen Geldwäscheverdachtsfall gestoßen“. Für Uwer ein Beleg „für weitge- hend wirkungslose, aber teure, aufwändige Bürokratie“. Ein ähnlicher Fall liege in der sogenannten DAC6-Richtlinie der EU vor, die den verpflichtenden Informationsaus- tausch im Bereich grenzüberschreitender Besteuerung vorsieht. Auch hier stünden, so Uwer, „Aufwand und Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis“. Als „total über- flüssig und hemmend“ schließlich sieht der Anwalt die Vorschrift an, selbst für bloß einstündige Besprechungen im EU-Ausland eine „A1-Bescheinigung“ der Deutschen Rentenversicherung mit sich führen zu müssen: „Das zeigt, wie weit sich die EU praktisch vom Gedanken eines Europas ohne Grenzen entfernt hat.“ Nicht bloß Selbstständige und Privatfirmen ächzen häufig unter den bürokratischen Auflagen der EU. Auch die im Verband kommunaler Unternehmen (VKU) organi- sierten 1.500 Stadtwerke, Ver- und Entsor- gungsbetriebe von Städten und Gemein- den in Deutschland mit rund 283.000 Be- schäftigten sind davon unmittelbar betrof- fen. Zwar begrüßt der VKU, „dass wir in Europa einen gemeinsamen Weg zur Kli- maneutralität gehen“, doch bei der Umset- zung dieses Ziels stoßen die kommunalen Energie-, Wasser- und Telekommunikati- onsversorger ebenso wie bei der Abwasser- und Abfallbeseitigung auf Belastungen, die finanzielle und personelle Ressourcen ver- schlingen. Markante Beispiele sind die Pflichten der Nachhaltigkeitsberichterstat- tung und der Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Ein VKU-Sprecher: „Für jeden einzelnen Ladepunkt müssen wir ei- nen eigenen Förderantrag stellen und jedes halbe Jahr berichten. Schneller wären wir, wenn wir mit einem Förderantrag mehrere Ladepunkte beantragen und nur einmal im Jahr berichten müssten.“ Der Vergleich zwischen den Bürokratielas- ten aus Brüssel und aus Berlin fällt beim VKU differenziert aus: „Brüssel hat bei sei- ner Gesetzgebung oft Konzerne im Sinn, Berlin weitet dann leider häufig die EU- Vorgaben bei der Umsetzung in deutsches Recht in Eigenregie auf den Mittelstand aus.“ Diese „deutsche Marotte“ bereite dem kommunalen Mittelstand „echt Kopf- schmerzen“. Tatsächlich ist in Brüssel zu hören, dass rund die Hälfte aller EU-Richt- linien und -Verordnungen auf deutsche Initiative oder mit deutscher Unterstützung zustande kommen. Beziehungen zu Brüssel Der europapoliti- sche Sprecher der CDU/CSU-Bundestags- fraktion, Gunther Krichbaum, spielt den Ball zurück ins Feld der EU. Sein Argument: Während früher auf neun Richtlinien aus Brüssel eine Verordnung kam, habe sich dieses Verhältnis heute umgedreht. Die Fol- ge: EU-Verordnungen gelten in den Mit- gliedsländern unmittelbar, Richtlinien müs- sen von den nationalen Parlamenten erst umgesetzt werden, mit einem gewissen Ge- staltungsspielraum für die jeweiligen Volks- vertretungen. Krichbaum: „Bei Verordnun- gen ist der Bundestag komplett außen vor.“ Er fordert daher, die Beziehungen zwischen Brüssel und den 27 EU-Mitgliedstaaten „vom Kopf auf die Füße zu stellen: Die EU gibt den Rahmen vor, die nationalen Parla- mente füllen ihn aus“. Allerdings räumt Krichbaum ein, die wach- sende „Eingriffstiefe“ durch die europäische Bürokratie habe auch etwas mit der zuneh- menden Integration zu tun, „die nicht oh- ne gemeinschaftliche Rechtsetzung zu ha- ben“ sei. Dennoch plädiert der CDU-Euro- paexperte dafür, dass „die Eingriffstiefe der europäischen Regelungen begrenzt wird, damit den Mitgliedsstaaten mehr Spielräu- me bleiben“. Der FDP-Haushaltspolitiker Otto Fricke hat Verständnis für die Notwendigkeit, Normen zu vereinheitlichen. Das könne durchaus wie eine zusätzliche Belastung wirken, sei aber oft nur der Ersatz für bis- heriges Regelwerk auf nationaler Ebene. Al- lerdings sieht er im Wunsch der Politik, „Gerechtigkeit und Gleichheit durch staat- liche Eingriffe herbeizuführen“, etwa durch die EU-Kommission, eine unnötige Belas- tung und einen Kostentreiber für die Wirt- schaft, zumal die Brüsseler Beamten „vom Alltag etwa eines deutschen Mittelständlers viel weiter entfernt sind als ihre Kollegen in Berlin oder in den Bundesländern“. Fricke bemängelt, dass in Europa vielfach Transparenz und Gewaltenteilung fehlten: „Das funktioniert nicht richtig.“ Dennoch lässt der Jurist nichts auf die Segnungen der EU gerade für die europäischen Grenz- regionen kommen. Fricke selbst ist häufig in den Niederlanden unterwegs und kann sich dort perfekt in der Landessprache ver- ständigen. Gunther Hartwig Der Autor ist freier Journalist in Berlin.

Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 EUROPAWAHL 2024 7 Neuer Schwung, alte Probleme WESTBALKAN Die sechs Staaten der Region haben jetzt eine klare Beitritts- perspektive, stehen sich aber oft selbst im Weg Beim Westbalkangipfel im Ok- tober 2021 mussten die sechs Länder noch froh darüber sein, dass die EU-Staaten ihre „Zusage für den Erweiterungs- prozess“ bekräftigten. Seiner- zeit wurde viel darüber spekuliert, ob die Staaten der Region auf ewig im Wartezim- mer der Union sitzen bleiben. Vier Monate später überfiel Russland die Ukraine – und die Europäische Union erhob Kiew im Schnellverfahren zum Beitrittskandidaten. Das änderte auch für den Westbalkan die Perspektive. Denn nach Jahren des Klein- klein dachten beide Seiten wieder geostrate- gisch. Und das konnte nur heißen: Alle Län- der in die EU zu bringen. Seitdem hat sich einiges getan. Im März be- schloss der Europäische Rat, mit dem fünf- ten Land Beitrittsverhandlungen aufzuneh- men: Bosnien-Herzegowina. Die Entschei- dung war nicht unumstritten, weil einige Reformen noch ausstehen, die der Rat an den Kandidatenstatus geknüpft hatte. Aller- dings sollte der Schritt die Akteure zu weite- ren Fortschritten ermutigen. Durchgesetzt wurde das positive Signal von einer Gruppe südosteuropäischer Staaten, die sich „Freun- de des Westbalkans“ nennt und von Öster- reich angeführt wird. Deutschland und Frankreich haben den Schritt unterstützt. Während Berlin sich schon lange für die Region engagiert, stand Paris auf der Bremse. Das hat sich jedoch seit einer Rede von Präsident Emmanuel Macron im Mai 2023 geändert. Man müsse die EU „so schnell wie möglich erweitern“, sagte Macron, um dem russischen Neo-Im- perialismus entgegenzutreten. Allerdings bleiben, trotz Geopolitik, viele praktische Schließlich müssen alle Beitrittskandidaten die Kopen- Schwierigkeiten. In der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, wird das Rathaus in den EU-Farben angestrahlt. Im März hat der Europäische Rat beschlossen, mit dem Land Beitrittsverhandlungen aufzunehmen - eine nicht unumstrittene Entscheidung. © picture-alliance/Armin Durgut hagener Kriterien von 1993 erfüllen. Sie müssen politisch stabil, demokratisch und rechtsstaatlich sein. Und sie müssen über ei- ne funktionsfähige Marktwirtschaft verfü- gen, die dem Wettbewerbsdruck im EU-Bin- nenmarkt standhält. In den Verhandlungen, die in Kapitel gegliedert sind, müssen sie den gesamten Rechtsbestand der Union übernehmen. Dabei gilt weiter der Grund- satz, dass jedes Land nach seiner individuel- len Leistung beurteilt wird und es keine Ab- kürzungen geben soll. Zwist Oftmals stehen sich die Länder je- doch selbst im Weg, wie der Konflikt zwi- schen Serbien und Kosovo zeigt. Die Regie- rung in Pristina reichte Ende 2022 als letz- ter Staat der Region ihren Beitrittsantrag in Brüssel ein. Darauf folgte jedoch eine von Pristina mitverschuldete Eskalation, nach- dem im April 2023 in vier mehrheitlich von Serben bewohnten Gemeinden im Norden Kosovos ethnische Albaner zu Bürgermeis- tern gewählt worden waren. Als die Regie- rung in Pristina deren Amtsantritt durchset- zen wollte, kam es zu Gewalt; Serbien ver- legte Truppen an die Grenze. Im September griffen dann militante Serben die Ord- nungskräfte an. Unter diesen Umständen waren Fortschritte in den Verhandlungen mit beiden Ländern schwer vorstellbar. Dabei hat Serbien viele Jahre Vorsprung, weil es schon seit 2014 über Beitrittskapitel verhandelt. Offiziell heißt es stets, dass die wechselseitige politi- sche Anerkennung keine Vorbedingung für einen EU-Beitritt ist. Doch tatsächlich muss das Verhältnis beider Seiten geklärt sein, be- vor Belgrad beitreten könnte. In Brüssel will man nicht den Fehler von 2004 wiederho- len, als nur der griechische Teil Zyperns der Union beitrat, was die politischen Verhand- lungen auf der Insel enorm erschwerte. Auch Montenegro stand sich lange Zeit selbst im Weg. Das kleine Land verhandelt schon seit 2012 über seinen Beitritt und ist am weitesten fortgeschritten. Bis 2020 wur- den alle 33 Verhandlungskapitel eröffnet und drei vorläufig geschlossen. Danach ge- schah aber lange nichts, weil sich proeuro- päische und proserbische Kräfte im Land wechselseitig blockierten. Erst seit der Bil- dung einer neuen, von einer Mehrheit getra- genen Regierung im Oktober 2023 sind Fortschritte wieder möglich. Die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien wurden Mitte 2022 eröffnet. Vorausgegangen waren lange Ver- zögerungen. So bekam Skopje schon 2005 den Kandidatenstatus, doch folgten ein Streit über den Staatsnamen mit Griechen- land und ein tiefgreifender Identitätskon- flikt mit Bulgarien, der immer noch schwelt. Albanien ist seit 2014 Kandidat und war von den Konflikten indirekt betrof- fen. Die EU wollte beide Länder nicht ent- koppeln, weil Nordmazedonien besser auf die Verhandlungen vorbereitet war als Alba- nien. Mit beiden Ländern wurden noch kei- ne Beitrittskapitel eröffnet. Thematische Cluster Auf alle Westbalkan- staaten wird eine neue Vorgehensweise an- gewendet, die die EU-Kommission 2020 be- schloss. Dabei werden Verhandlungskapitel zu thematischen Clustern zusammenge- fasst. Außerdem stehen rechtsstaatliche Re- formen noch stärker im Mittelpunkt – das sind stets die schwierigsten Kapitel. Jeder Beitrittskandidat muss die Unabhängigkeit seiner Justiz sicherstellen, faire Gerichtsver- fahren garantieren, die Grundrechte schüt- zen und wirksam gegen Korruption vorge- hen (Kapitel 23). Außerdem muss der EU- Besitzstand zum gemeinsamen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts über- nommen werden. (Kapitel 24). Das betrifft unter anderem Grenzkontrollen, die Zu- sammenarbeit von Polizei und Zoll, die Be- kämpfung organisierter Kriminalität, und die Regeln für Migration und Asyl. Wie weit der Weg der Länder hier noch ist, zeigt eine interne Bewertung der EU-Kom- mission von Anfang November 2023 zu beiden Kapiteln. Auf einer Skala von eins (keine Vorbereitung) bis fünf (Gute Fort- schritte) bekamen Montenegro, Nordmaze- donien und Albanien die höchsten Noten: jeweils 2,5 – zwischen „etwas Vorbereitung“ und „mäßig vorbereitet“. Dahinter folgten Serbien (2,2) sowie Bosnien-Herzegowina und Kosovo (jeweils 1,5). Um die schwierigen Anpassungsprozesse zu befördern, hat die Kommission einen Wachstumsplan für den Westbalkan entwi- ckelt. Sie will dafür in den nächsten vier Jahren sechs Milliarden Euro einsetzen. Zur Hälfte sollen von dem Geld wirtschaftliche Reformen finanziert werden, zur anderen Hälfte soll es in das Budget der Länder flie- ßen. Die EU winkt damit, dass sie ihren Binnenmarkt schon vor dem Beitritt in aus- gewählten Bereichen öffnet. Allerdings ver- langt sie im Gegenzug, dass die Staaten ih- re ver- schmelzen. Für Serbien und Kosovo gilt noch die zu- sätzliche Auflage, dass sie konstruktive Ge- spräche über ihre Statusfragen führen müs- sen. Und wer die Reformauflagen der Kommission nicht innerhalb eines Jahres erfüllt, verliert seinen Anteil am Gesamt- topf. All das soll die regionale Zusammen- arbeit ansp*rnen. Es könnte aber auch zu neuen Konflikten führen, wenn es miss- lingt. Thomas Gutschker T eigenen Märkte untereinander Der Autor ist politischer Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Brüssel. Lange kein Wunschpartner UKRAINE Die EU hat sich lange schwergetan mit einer möglichen Mitgliedschaft der Ukraine. Der russische Überfall hat alles verändert. Wer auf die drei Jahrzehnte währende Ge- schichte der Beziehungen zwischen EU und Ukraine zurückblickt, erkennt ein deutliches Muster: Kiew fordert schneller engere Beziehungen, Brüssel bremst. 1994 unterzeichneten die Ukraine und die EU ein erstes Partnerschaftsabkommen, was jedoch kaum politische Substanz ent- hielt. Denn ab Ende der 1990er Jahre war Europa vor allem damit beschäftigt, den Beitritt der baltischen Staaten und osteuro- päischer Länder wie Polen und Ungarn zu verhandeln. des prowestlichen Orange Revolution Einen ersten Schub erhielt die ukrainische Beitrittsperspektive nach der Orangen Revolution und der Wahl Viktor Juschtschenko zum Präsidenten 2005. Die- ser forderte von Brüssel eine klare Perspek- tive für einen EU-Beitritt. 2005 erklärte der damalige EU-Kommissionspräsident José Barroso zwar, die Zukunft der Ukraine lie- ge in der EU. Doch nach der großen Erwei- terungsrunde von 2004 zeigte sich die EU nicht bereit zur schnellen Aufnahme weite- rer Länder – stattdessen verhandelte man mit der Ukraine über Freihandel und Visa- freiheit. Polen ist seit dem eigenen Beitritt der größte Befürworter eines ukrainischen EU-Beitritts: 2005 reichte das Land ge- meinsam mit der Ukraine die Bewerbung für die Ausrichtung der UEFA-Fußball-EM 2012 ein – in der Erinnerung vieler Ukrai- ner ein Ereignis, das bei ihnen das Zugehö- rigkeitsgefühl zu Europa stärkte. 2008 führte die EU auf Initiative Schwe- dens und Polens das Instrument der „Östli- chen Partnerschaft” (ÖP) mit den drei Süd- kaukasusstaaten und mit Belarus, Moldau und der Ukraine ein. Aus Sicht der Initiato- ren sollte die ÖP diese Länder an die EU heranführen, aus Sicht vieler westeuropäi- scher Länder jedoch wurde sie eher als Er- satz für eine EU-Mitgliedschaft betrachtet. Im November 2013 entzündete sich an den Beziehungen zur EU die sogenannte „Mai- dan-Revolution“: Überraschend gab der 2010 gewählte Präsident Wiktor Januko- witsch kurz vor dem entscheidenden EU- Gipfel bekannt, das über Jahre ausgehan- delte Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben. Janukowitsch sah die Be- ziehungen zu Russland gefährdet. Es folgte eine blutige Revolution, die mit der Flucht Janukowitschs endete. Wenige Wochen da- rauf annektierte Russland die Halbinsel Krim. Mit der neuen, prowestlichen Regie- rung der Ukraine unterschrieb die EU schließlich das Assoziierungsabkommen. Waren die Ukrainer noch 2013 gespalten in der Frage, ob man sich Russland oder der EU annähern sollte, änderte sich dies nach dem Jahr 2014 deutlich: Für eine An- näherung an Russland tritt heute nur noch eine Minderheit der Ukrainer ein. Unter dem neuen Präsidenten Petro Poro- schenko trat zwar 2017 ein Abkommen über eine visafreie Einreise der Ukrainer in die EU in Kraft, die Aufnahme von Bei- trittsverhandlungen rückte jedoch kaum näher, unter anderem, weil die Reformbe- mühungen der neuen ukrainischen Regie- rung beim Kampf gegen Korruption als un- genügend betrachtet wurden. Plötzlich Kandidat Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 än- derte alles: Präsident Wolodymyr Selenskyj stellte vier Tage nach Kriegsbeginn einen EU-Mitgliedsantrag, begleitet von der For- derung nach einer „neuen speziellen Pro- zedur”, die eine schnellere Aufnahme er- möglichen sollte. Diese gewährte Brüssel zwar nicht, jedoch erhielt das Land schon drei Monate später – gemeinsam mit Mol- dau – den Kandidatenstatus, begleitet von einer Liste mit sieben umfangreichen Re- formprojekten, die innerhalb von zehn Jahren vollzogen sein müssten. Im November 2023 beschlossen die EU- Mitgliedsländer schließlich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, nachdem die EU-Kommission festgestellt hatte, die Ukraine habe bereits mehr als 90 Prozent der Auflagen erfüllt, unter anderem bei der Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Auswahl des hohen Justizrates, beim Anti- korruptionsprogramm und dem Kampf ge- gen die Monopolisierung. Konkret ist seitdem trotz Drucks aus Kiew jedoch wenig geschehen: EU-Kommissi- onspräsidentin Ursula von der Leyen ver- tröstete die Ukrainer jüngst, die EU werde womöglich „zu Sommerbeginn bereit” zur Aufnahme von Verhandlungen sein. Geo- politisch stehen die Zeichen seit dem russi- schen Überfall zwar auf eine schnellere Er- weiterung der EU – das betrifft auch Georgien, Moldau und die Staaten des Westbalkans. Doch auf der praktischen Ebene gibt es noch viele Fragezeichen: Im Bereich der Korruption hat die Ukraine sich seit 2013 zwar stetig verbessert, steht aber im internationalen Vergleich noch im- mer schlecht da – auf Platz 116 von 180 im „Corruption Perception Index“ von Trans- parency International. Völlig ungeklärt ist zudem die Frage der territorialen Integrität der Ukraine. Mit der Aufnahme der Republik Zypern im Jahr 2004, die aber de facto nur den südlichen Teil der Insel kontrolliert, hat die EU schon einen ungelösten territorialen Kon- flikt, der bis heute immer wieder zu Pro- blemen mit der Türkei führt. Und nicht zuletzt ist da die Kostenfrage ei- ner Aufnahme der Ukraine, in der das Durchschnittseinkommen heute bei 4.000 Euro liegt, 6.000 Euro weniger als im EU- Schlusslicht Bulgarien: Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft wür- den nach den jetzt geltenden Regeln im Falle einer Vollmitgliedschaft der Ukraine 17 Prozent des EU-Haushalts in die Ukrai- ne abfließen, vor allem Agrarsubventionen und Mittel aus dem Kohäsionsfonds, der darauf zielt, Einkommensunterschiede zwi- schen den Ländern auszugleichen. Auch die Beziehung der EU-Bürger zur Ukraine hat sich im übrigen seit dem 24. Februar 2022 geändert. Laut einer Um- frage vom April 2024 ist die Ukraine unter allen Beitrittskandidaten das Land, dessen Beitritt die EU-Bürger am ehesten unter- stützen: 45 Prozent sind dafür, 35 Prozent gegen einen Beitritt. Moritz Gathmann T Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin. Terry Reintke Eine Grüne mit großem Bedürfnis für Gerechtigkeit Astrologen hätten ihr bestimmt eine europäische Karriere vorhergesagt, wurde Terry Reintke doch an einem 9. Mai geboren, dem Europatag der EU. Sie tat aber auch eine Menge selbst dafür. Seit 2014 sitzt die Gelsen- kirchenerin im Europäischen Parla- ment, 27 Jahre alt war sie damals. Mittlerweile ist sie die Ko-Vorsitzende der Fraktion Die Grünen/EFA in Straß- burg sowie jetzt auch Spitzenkandida- tin der europäischen Grünen. Den europäischen Club mischt sie seit- dem auf. Reintke zählt zum linken Flü- gel der Grünen, verweigerte sich auch jüngst dem Asylkompromiss auf EU- Ebene und erzürnte damit die Realo- Grünen in Deutschland. Wer Reintkes Lebenslauf stolpert über eine Menge Spiegelstriche; die Liste ihrer Engagements und Mitgliedschaften ist lang. Ist sie eine geborene Aktenfres- serin? Sie lacht. „Ja, Politik bedeutet, dass man sich viele Dinge genau an- schauen muss. Das kriegt man von au- ßen vielleicht gar nicht so mit.“ Weil sie aber Politik mit viel Leidenschaft betreibe, sagt sie, mache ihr das viele Lesen Spaß. 2004 wurde Reintke Mitglied bei der Grünen Jugend. „In einem sehr jungen liest, Terry Reintke a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © of Young erinnert ihres Engagements Jugendorganisationen; Alter schon hatte ich ein großes Ge- rechtigkeitsbedürfnis“, sie sich. „Ich fragte mich früh, warum die Dinge so sind, wie sie sind.“ Die Trans- formation des Ruhrgebiets erlebte sie hautnah, mit der Deindustrialisierung, den Schlangen vor dem Arbeitsamt, aber auch den gelungenen Wandel. Deshalb sei sie damals politisch aktiv geworden, steht auf ihrer Website: „Um die Weichen für eine soziale soli- darische grüne Transformation in Europa zu stellen und neue Perspekti- ven für seine Menschen und Wirt- schaft zu entwickeln.“ 2006 begann sie ein Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Edinburgh, das sie 2012 abschloss und dann bei einem Bundes- tagsabgeordneten als wissenschaftli- che Mitarbeiterin anfing. Parallel hat- te sich Reintke engagiert, war zwi- schen 2011 und 2013 Sprecherin der „Federation European Greens“, dem europäischen Verband grüner erst 2012 trat sie der grünen Partei bei. Transformation scheint ein Schlüssel- wort zu sein. Reintke setzte sich für ein neues Be- wusstsein bei Klimaneutralität, Frau- enrechten und Diskriminierung von Minderheiten ein. Der Hebel dabei ist Europa. „Noch immer bewegt es mich, wenn ich die Europahymne höre“, sagt sie. „Europa ist die Verkörperung von Gemeinsamkeit und Solidarität.“ Im Wahlprogramm heißt es: „Wir wol- len Verantwortung übernehmen. Des- halb treten wir an für eine Politik, die nicht übertönt, sondern überzeugt. Für eine Politik, die – gerade weil wir eu- ropäisch mehr erreichen können als im nationalen Alleingang – Europa besser machen will.“ Reintke ergänzt: „Die großen Fragen, ob Klimawandel, Steu- erhinterziehung oder Demokratiever- teidigung, bewältigen wir nur grenz- überschreitend.“ Für Reintke und für die Grünen wird es schwer werden, vergangene Europa-Wahlergebnis von 20,5 Prozent der Stimmen zu erreichen. Umso hart- näckiger gibt sie sich: „Bei all diesen wichtigen Themen können wir nicht so tun, als könnte man das auch in zehn Jahren klären. Das muss die Politik jetzt in die Hand nehmen.“ Jan Rübel das

8 EUROPAWAHL 2024 Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 Wählen fürs Klima KLIMAWANDEL Das Thema dominierte die Europawahl 2019. Doch welche Rolle spielt es noch, wenn Krieg und Sorgen wegen Migration die Debatte prägen? Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung Fridays For Future fordern effektiven Klimaschutz und wollen das Thema auf die Agenda bei der anstehenden Europawahl setzen. © picture-alliance/NurPhoto/Renato Franco Bueno Marie-Agnes Strack-Zimmermann »Sind aufgerufen, das Europa der Freiheit zu sichern« Mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann haben die Liberalen eine Hoffnungsträgerin zur Spit- zenkandidatin gemacht. Die Düsseldorferin gehört zu jenen Menschen, denen man zu- hört. Ihre Sprache, ob man nun ihre Inhalte teilt oder nicht, ist klar, direkt und verständ- lich. Es wirkt, als nehme sie zu jedem Gegen- über die gleiche Augenhöhe ein. »Eurofighterin« In der Politik gilt sie jeden- falls als Shootingstar. Dem Bundestag gehört Strack-Zimmermann, 66, erst seit 2017 an, davor beackerte sie seit 1999 die Düsseldor- fer Kommunalpolitik, unter anderem zwi- schen 2008 und 2014 als Stellvertreterin des Oberbürgermeisters. Davon ist nicht mehr viel zu spüren. In den Europa-Wahlkampf zieht sie auf den Plakaten der FDP als „Eurofighterin“ – eine Anspielung auf das Kampfflugzeug und ihre stete Forde- rung nach einer stärkeren militärischen Unter- stützung der von Russland angegriffenen Ukraine. Den meisten Deutschen bekannt ge- worden ist die Rheinländerin als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag und durch ihre Amtsinterpretation als Kritike- rin jener Regierungspolitik, der ihre Partei selbst angehört; dann aber meint sie vor al- lem den bei Waffenlieferungen zuweilen zö- gernden Kanzler Olaf Scholz (SPD). n n a m r e m m Z - k c a r t S i o r ü B © Marie-Agnes Strack-Zimmermann Der FDP-Spitze war klar, dass sie mit Strack- Zimmermann eine Frontrunnerin gewinnen, die zieht: Bei ihren bisherigen Kandidaturen auf kommunaler und auf Bundesebene erziel- te sie zweistellige Ergebnisse, was für die Li- beralen nicht Ihre Schlagfertigkeit brachte sie in zahlreiche Fernseh-Talksendungen. selbstverständlich ist: Für eine Verteidigungsunion Im Europa- Wahlkampf schimmert ihre Rolle als Verteidi- gungspolitikerin durch: „Europa ist keine Selbstverständlichkeit“, wird sie auf der Par- tei-Website zitiert. „Wir sind aufgerufen, die- ses Europa der Freiheit zu sichern“. Europa bezeichnet sie als „unsere Zukunft“. Und: „Eine andere haben wir nicht.“ Klassisch li- beral im Programm ist die Forderung nach ei- ner Priorisierung des Schuldenabbaus in den EU-Mitgliedsländern, nach dem Beginn von Tilgungen der Corona-Solidaritätsfonds-Kredi- te, nach Abbau von Bürokratie, nach dem Stopp anlassloser Speicherung von Fluggast- daten und nach mehr „Technologieoffen- heit“. Diese Punkte sind nicht gerade prädes- tiniert, sich bei den Wählern einzuprägen. Bleibt also Strack-Zimmermanns Kernkompe- tenz als Merkmal – und ihr Eintreten für eine gemeinsame Armee in der EU: „Der Moment war noch nie so günstig, jetzt auch über eine europäische Verteidigungsunion zu spre- chen“, sagte sie beim Parteitag der europäi- schen Liberalen ALDE gegenüber Journalis- ten. „Angesichts der Bedrohungen, die unser System kaputt machen wollen, ist es an der Zeit, dass wir uns auch im Bereich Sicherheit aufstellen. Daran würde ich mich gerne betei- ligen.“ Durch Zufälle in die Politik Bevor sie hauptberuflich in die Politik ging, arbeitete Strack-Zimmermann 20 Jahre lang als Ver- lagsrepräsentantin des Jugendbuchverlags Tessloff, hatte Publizistik, Politikwissenschaft und Germanistik studiert und promoviert. „Die Politik holte mich ein. Das waren mitun- ter Zufälle, mir wurde nicht an der Wiege ge- sungen, dass ich einmal Berufspolitik machen würde.“ Wirklich nicht? Immerhin hatte ihr Großvater 1912 als Liberaler erfolglos für den Reichstag kandidiert. Ihre Großmutter saß mehrere Jahre für die CDU im Heidelberger Stadtrat. „Meine Eltern versuchten liebevoll, mich für die CDU zu begeistern, aber das Welt- und Frauenbild der Union in den Siebzi- Jan Rübel T gern war nicht meins.“ A uf der Marschallbrücke im Berliner Regierungsviertel prangt Mitte April in wei- ßen Großbuchstaben die Botschaft: „Our world is on fire. Use your voice!“ (auf Deutsch: „Unsere Welt steht in Flam- men. Nutze deine Stimme“). Bunte Sterne umrahmen die Worte und erinnern so an die Europaflagge. Es sind noch 51 Tage bis zur Europawahl am 9. Juni. Der Schriftzug stammt von Aktivistinnen und Aktivisten der Bewe- gung Fridays for Future. Mit weißer Farbe haben sie die Botschaft auf den Boden ge- schrieben. Frieda Egeling, die Pressesprecherin der Berliner Gruppe von Fridays For Future, erklärt: „Wir brauchen effektiven Klima- schutz auf Bundes- und EU- Ebene“. Sie sagt, die anste- hende Europawahl werde die Weichen für den Natur- und Klimaschutz der kom- menden Jahre stellen. Fri- days For Future bezeichnet die Abstimmung deshalb als „Klimawahl“. Die Aktion auf der Marschallbrücke soll die Wählerinnen und Wähler daran erinnern, den Klimaschutz bei ihrer Wahlentscheidung zu bedenken. Doch welche Rolle spielt das Thema bei der anstehenden Wahl wirklich? Die Europawahl 2019 stand stark unter dem Eindruck des Klimawandels: Grüne Parteien waren die großen Wahlsieger und die Frak- tion der Grünen/EFA konnte ihre Sitze im »Wir brauchen effektiven Klimaschutz auf Bundes- und EU- Ebene.« Fridays For Future Europaparlament von 52 auf 72 erhöhen. Doch heute dominieren andere Krisen: der Krieg in der Ukraine, zunehmende Migrati- on und wirtschaftliche Unsicherheiten. Kann das Klima da mithalten? Der Wahlforscher Thorsten Faas von der Freien Universität Berlin ist skeptisch. Er sagt: „2019 galt als eine Klimawahl“. Doch 2024 werde wohl keine Wahl sein, die vom Thema Klima dominiert wird. Der Wahlfor- scher sagt: „Wir sehen in Umfragen, dass durchaus andere Themen gerade oben auf der Agenda stehen: Migrati- on, Konflikte, Kriege und die Wirtschaft“. Doch eine aktuelle Studie des Europäischen Rats für Auswärtige Beziehungen (European Council on Fo- reign Relations, kurz ECFR) kommt zu dem Schluss, dass der Klimawandel – ne- ben der Migration – das Thema ist, dass die Bürge- rinnen und Bürger am stärksten zum Wählen mo- bilisieren könnte. So nann- te ein Fünftel der 17.000 Befragten aus zwölf europäischen Ländern, den Klima- wandel als ihre größte Sorge der Zukunft. Pawel Zerka, der als Politikwissenschaftler beim ECFR arbeitet und an der Auswertung Studie mitgewirkt hat, erläutert: Diejenigen, die sich wegen des Klimawandels sorgen, könnten rund 74 Millionen Stimmen auf- bringen. Das sind rund 16,5 Prozent aller Menschen in der EU. Darunter sind beson- ders viele junge Menschen; so gab ein Vier- tel der Befragten unter 29 an, die Zukunft besonders wegen des Klimawandel bedroht zu sehen. Auch eine Umfrage des Marktforschungsun- ternehmens Ipsos vom Mai 2024 kam zu dem Ergebnis, dass der Klimawandel die Europäerinnen und Europäer weiterhin stark beschäftigt. So gaben 52 Prozent der Befragten an, dass der Kampf gegen den Kli- mawandel eine Priorität in der EU sein soll- te. Die Umfragewerte unterscheiden sich je- doch stark nach Mitgliedstaaten: Während die Mehrheit der Dänen und Schweden den Klimawandel als politischen Schwerpunkt in der EU identifiziert, sorgen sich die Bür- gerinnen und Bürger der osteuropäischen Länder oder Finnlands eher wegen des Krie- ges in der Ukraine und sehen eine Lösung des dortigen Konfliktes als eine der wich- tigsten Aufgaben der EU an. Der Politikwissenschaftler Zerka erklärt, was die Wählerinnen und Wählerinnen, die sich besonders wegen des Klimas sorgten, so be- sonders mache: „Sie machen sich auch dann Sorgen um die Zukunft, wenn die von ihnen bevorzugte politische Partei an der Macht ist und betrachten das Problem nicht als gelöst, wenn es ein starkes Programm für das Klima gibt“. Bei den Wählerinnen und Wählern, die sich beispielsweise um die Mi- gration sorgen, sei das anders. Für diese sei die Wahl einer rechtsextremen Regierung ei- ne Antwort auf ihre Einwanderungsängste – auch wenn sich in der Realität wenig än- dert, so Zerka. Beide Gruppen eint jedoch das Gefühl der Dringlichkeit und die Ansicht, „Wenn heute nicht gehandelt wird, wird es morgen Thema schwierig sein, Maßnahmen zu ergreifen, um die Probleme zu lösen“, sagt Zerka. Auch Egeling, die Pressesprecherin von Fri- days For Future, betont die Bedeutung der Europawahl und hofft, dass Parteien, die sich für den Klimaschutz einsetzen, viele Stimmen erhalten. Dennoch sagt sie, dass es bei der Europawahl nicht nur darum gehe, für das Klima zu wählen – sondern auch für soziale Gerechtigkeit. Eine Wahlempfeh- lung gibt Fridays For Future nicht ab. Der Politikwissenschaftler Zerka sagt: „Men- schen, denen das Klima wichtig ist, wählen nicht mehr unbedingt grüne Par- sei teien“. Das „Mainstream“ geworden und grüne Parteien hätten ihr Monopol darüber verlo- ren. Zudem habe es in den ver- gangenen Jahren einige Er- rungenschaften in der Kli- mapolitik wie den „Green Deal“ gegeben. Dieser soge- nannte Green Deal ist ein Paket politischer Initiativen der EU, mit dem Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent werden soll. Sol- che Errungenschaften gäben einigen Bürge- rinnen und Bürgern das Gefühl, dass bereits Initiativen fürs Klima ergriffen würden, so Zerka. Der Politikwissenschaftler erläutert weiter, dass grüne Parteien einen Kurswechsel ein- geschlagen haben und sich weniger von etablierten Parteien unterscheiden. So war Bündnis 90/Die Grünen beispielsweise lan- ge eine pazifistische Partei – nun setzten sich die Mitglieder offen für Waffenlieferun- gen ein. Das hole einige Wählerinnen und Wähler nicht mehr ab. Aktuelle Wahlprog- nosen des Marktforschungsunternehmens Ipsos bestätigen Zerkas Aussagen: Während die Grünen 2019 noch als die großen Wahl- sieger der Europawahl gefeiert wurden, wer- den sie nun in den Prognosen als große Ver- lierer gehandelt. Die Aktivistinnen und Aktivisten von Fri- days For Future sind sich bewusst, dass das Klima mit anderen großen Herausforderungen konkur- riert. Daher wollten sie mit der Aktion vor einigen Wo- chen nicht nur zum Wählen motivieren, sondern auch die zum Handeln auffordern. Presse- sprecherin Egeling fordert, dass die Politik beim Thema Klima mehr auf die Wissen- schaft hören müsse. Doch die Veranstaltung auf der Marschallbrücke ist spärlich besucht. Viele Ab- geordnete sind an diesem Freitag nicht in Berlin – es eine sitzungsfreie Woche im Par- lament. Rund drei Stunden nach Beginn der Veranstaltung kommen die Räumfahrzeuge und waschen den Schriftzug von der Straße. Doch die Aktivistinnen und Aktivisten blei- ben zuversichtlich. Bis zur Wahl haben sie noch viele weitere Veranstaltungen und Ak- tionen geplant – und ihre Hoffnung bleibt, dass auch die Europawahl 2024 eine Klima- wahl wird. Carolin Hasse T Abgeordneten »Menschen, denen das Klima wichtig ist, wählen nicht unbedingt grüne Parteien.« Pawel Zerka Politikwissenschaftler Das »Herzstück« europäischer Klimapolitik CO2-ZERTIFIKATE Der Handel mit Emissionsrechten soll Unternehmen bewegen, mehr in den Klimaschutz zu investieren Farb- und geruchlos ist es, das Kohlendi- oxid (CO2). Vor allem Pflanzen können mit dem Treibhausgas so recht etwas an- fangen. Geht es ums Klima, ist oft von ei- nem Handel mit CO2 die Rede. Genau ge- nommen stimmt das nicht: An den Börsen- plätzen werden die Milliarden Tonnen des Treibhausgases nicht selbst gehandelt, son- dern es sind Emissionsrechte. Im europäi- schen Emissionshandel (Emissions Trading System – ETS) erlaubt ein Zertifikat seinem Besitzer, eine Tonne CO2 abzugeben. Das EU-ETS Nummer Eins startete 2005. In dem Jahr trat das Kyoto-Protokoll in Kraft; in dem globalen Klimaschutzabkom- men sagte die EU für ihre damals 15 Mit- gliedstaaten zu, ihre CO2-Emissionen bis 2012 um acht Prozent gegenüber 1990 zu senken. Deutschland als emissionsstarkes Land hatte eine Minderung von 21 Prozent zu erbringen. Obergrenze wird abgesenkt Dass die EU auf den Börsenhandel kam, um Emissio- nen zu senken, wird mit dem Wirken von Marktkräften begründet. Muss ein Unter- nehmen für seinen CO2-Ausstoß Emissi- onsrechte erwerben, wird es sich überlegen: Ist es preiswerter, Zertifikate zu kaufen oder Klimaschutzmaßnahmen zu ergrei- fen? Um klimapolitisch gewünschte Ent- scheidungen zu erzielen, wurde die Zahl der Zertifikate mit einem „Cap“ begrenzt; die Obergrenze wird nach und nach abge- senkt. Das verteuert den Erwerb der Emissi- onsrechte und sorgt dafür, dass sich immer mehr Unternehmen dafür entscheiden, ih- ren CO2-Ausstoß zu senken. Klimaschutz passiert quasi automatisch. Im Hintergrund spielen dabei sogenannte Vermeidungskosten eine Rolle: So kostete es laut einer Studie von McKinsey 2020 in Deutschland um die 32 Euro, um mit der Veränderung des Energiemixes in Richtung Erneuerbare eine Tonne CO2 einzusparen. Setzt die Stahlindustrie grünen Wasserstoff ein, um sich zu dekarbonisieren, wird das nach Verbändeangaben 65 bis 330 Euro je Tonne CO2 kosten. Im Verkehr liegen die Vermeidungskosten für eine Tonne CO2 laut einer Übersicht der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages oft jenseits der 300 Euro, beispielsweise wenn von der Ver- brennertechnik auf reinen Batteriebetrieb mit Ökostrom gewechselt wird. Die Entwicklung der CO2-Preise im Han- del und die unterschiedlichen Vermei- dungskosten sorgen schließlich dafür, dass diejenigen Unternehmen zuerst handeln, die ihre CO2-Emissionen vergleichsweise kostengünstig senken können. Mit wenig Aufwand kann so ein großer Klimaeffekt erzielt werden. Sind die preiswerten Mög- lichkeiten ausgereizt, kommen teurere CO2-Minderungen an die Reihe. Preise steigen mit der Zeit Der ETS gilt als das „Herzstück“ europäischer Klimapo- litik. Bislang erfasst der Emissionshandel aber nur die Energiewirtschaft sowie die energieintensive Industrie und damit nur knapp 40 Prozent der CO2-Emissionen der EU. Beide Branchen erhielten gerade in den ersten Jahren kostenlose Emissions- rechte großzügig zugeteilt. Anfangs konn- ten die Länder ihre „Caps“ auch selbst fest- legen. In der Folge gab es lange Zeit ein Überangebot von Emissionsrechten. Erst 2019 erreichte der Zertifikatspreis die 20-Euro-Grenze. Weil danach Vergünsti- gungen wegfielen, ging es mit dem CO2- Preis schnell nach oben: 2022 kostete ein Zertifikat schon um die 80 Euro. Der Um- stieg auf erneuerbare Energien begann sich wirtschaftlich zu rechnen. Angesichts seines Erfolgs ist der Emissions- handel ein entscheidender Teil des „Fit-for- 55-Pakets“. Mit dem will Europa seinen > S T I C HW O RT Europäische Klimapolitik > Verbindliche Ziele Bis zum Jahr 2050 will die EU zum treib- hausgasneutralen Kontinent werden. Bereits bis zum Jahr 2030 sollen die Emissionen um mindestens 55 Prozent reduziert werden. > Green Deal Um diesen Zielen nachzukommen, hat die EU En- de 2019 den Green Deal verabschiedet, eine Wachstumsstrate- gie, mit der europäische Wirtschaft moderner, ressourcenscho- nender und wettbewerbsfähiger gemacht werden soll. Sämtli- che Politikfelder wie Energie, Industrie, Landwirtschaft und Mobilität sollen auf die Klimaschutzziele ausgerichtet werden. a k c y z r a Z . D | o t o h P r u N / e c n a i l l a e r u t c i p © CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent redu- zieren. Wichtigste Neuerung ist: Es wird ein Emissionshandel für Gebäude, Straßenver- kehr und kleine Industrieanlagen (EU-ETS 2) geschaffen. Weil die Emissionsminderung in diesen Bereichen höhere Vermeidungs- kosten mit sich bringt, wird der Zertifikate- preis im EU-ETS 2 höher sein als bisher. Hilfe für benachteiligte Haushalte Wäh- rend beim ETS 1 die Einnahmen aus dem Zertifikateverkauf in den jeweiligen Staats- haushalt flossen, soll beim ETS 2 ein Vier- tel der Einnahmen in einen Sozialfonds gehen. Aus diesem können die Länder ins- besondere benachteiligte Haushalte unter- stützen. Von 2026 bis 2032 sollen diese Fi- nanzhilfen einen Umfang von bis zu 65 Milliarden Euro erreichen. Der Emissionshandel ist aber kein Allheil- mittel fürs Klima. So wurde eine der wirk- samsten Klimamaßnahmen in Deutsch- land – der Kohleausstieg – per Gesetz be- schlossen. Über einen Börsenpreis sind die Stilllegung ganzer Kraftwerksgenerationen, die Folgen für zehntausende Beschäftigte sowie der Strukturwandel in den Kohlere- gionen nicht zu managen. Jörg Staude T Der Autor ist Redakteur beim Onlinemagazin „klimareporter“.

Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 EUROPAWAHL 2024 9 »Das wäre ein K.-o.-Schlag« WÄHRUNGSUNION UND BINNENMARKT Jürgen Stark übt harte Kritik an der Europapolitik der vergangenen Jahre und der EZB. Dennoch zeigt er sich als lei- denschaftlicher Europäer und verteidigt die EU gegen deren Gegner liegen mittlerweile bei 140 Prozent des BIP. Auch Frankreich kann ein Problem werden, dort geht die Staatsschuldenquote in Richtung 115 Prozent. Der IWF erwartet, dass Paris bis 2029 ein sehr hohes jährli- ches Defizit von mehr als vier Prozent aus- weisen wird. Es sind verstärkte Anstrengun- gen nötig, die Defizite zurückzufahren. Das ist allerdings angesichts der schwachen Wirtschaft und der großen Herausforde- rungen schwierig. Meine Position lautet schlicht: zurück zu Maastricht! Maastricht war besser, als viele heute sagen. Das Konzept war konsistent. Herr Stark, Sie waren dabei, als 1992 der Maastricht-Vertrag ausgehandelt wurde, der die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) begründe- te, die Basis für die Euro-Einführung 1999. Wie bewerten Sie den Euro heute? Wir haben heute eine andere Währungs- union und einen anderen Euro, als das 1992 im Maastricht-Vertrag konzipiert wurde. 1992 hatten sich die nationalen Re- gierungen auf klare Kriterien geeinigt, an die sich die Mitgliedsländer der WWU hal- ten müssen: Staatsschulden von 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung und ein jährliches Defizit von maximal drei Pro- zent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wur- de das Verfahren später konkretisiert. Dazu kam die sogenannte No-Bailout-Klausel, nach der kein Staat für die Schulden ande- rer Staaten haftet. Das gilt aber doch immer noch, ist dem Stabilitätspakt nur schwer umsetzbar. Nein. Schon 2005 haben Deutschland und Frankreich einen schweren Stoß verpasst, seitdem hat es zahlreiche weitere Aufweichungen und fast jährlich neue Auslegungen gegeben. Vor 15 Jahren kam dann die europäische Staatsschuldenkrise. Da wurden die Euro- Rettungsschirme geschaffen, mit vielen hundert Milliarden Euro, um Euro-Staaten zu finanzieren, die aufgrund ihrer hohen Schuldenlast den Zugang zum Kapital- markt verloren hatten und sich deshalb nicht mehr finanzieren konnten. Seitdem gilt die No-Bailout-Klausel faktisch nicht mehr. Dazu kamen die Billionen schweren Käufe von Staatsanleihen, die der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) beschlos- sen hat, die letztlich auch dazu dienten, Länder mit Finanznöten herauszupauken. Auf die Kriterien zur Staatsverschuldung wurde dagegen kaum noch geachtet. Wäre Deutschland ohne den Euro besser gefahren? Entscheidend ist das Gesamtbild von Bin- nenmarkt und Währungsunion. Eine ernst- zunehmende Analyse führt sicher zu dem Ergebnis, dass Deutschland vom europäi- schen Integrationsprozess mit den High- lights Binnenmarkt und Euro per saldo insgesamt deutlich profitiert hat. Das gilt auch für viele andere Länder der WWU. Binnenmarkt und Währungsunion sind dabei untrennbar miteinander verknüpft. Europa hat einen großen Anteil an unse- rem Wohlstand in Deutschland. Das darf man nicht vergessen. Das darf man auch nicht gefährden. Ich warne vor politischen Stimmen, die den europäischen Integrati- onsprozess insgesamt in Frage stellen. sind möglicherweise Wie gefestigt ist die Währungsunion? Wir einer neuen Staatsschuldenkrise in Europa näher als viele denken. Mit der AfD erklärt eine im Bundes- tag vertretene Partei das EU-Projekt als gescheitert. Manche Stimmen dort wollen zur Europäischen Gemeinschaft vor 1992 zurückkehren. Was halten Sie davon? Die europäische Integration ist nie linear verlaufen. Die Forderung nach Rückkehr vor 1992 können nur politische Kräfte in ihrer Programmatik stellen, die nicht in der politischen Verantwortung stehen. Würde man ernsthaft die EU rückabwi- ckeln wollen zu einem Status vor 1992, wäre das der wirtschaftliche und politische K.-o.-Schlag für Europa. Es wäre eine Ver- nichtung von Wohlstand und des Friedens- projekts, das die EU immer noch ist. Die Partei, die Sie nennen, steht mit ihrer For- derung deshalb auch im Vergleich zu ihren Partnerparteien in Europa ziemlich alleine da. Auch in Frankreich spricht niemand mehr davon, den Euro abzuschaffen. Wer Verantwortung trägt, muss mit den jetzigen Gegebenheiten zurecht kommen und muss sehen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft verbessert. Das ist aber Auf- gabe nationaler Politik, nicht europäischer. In den vergangenen fünf Jahren hat die EU-Ebene aber viel Wirtschaftspolitik betrieben, etwa mit dem mehr als 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbau- fonds Next Generation EU. Es sind ja inzwischen 807 Milliarden Euro. Man versucht wieder einmal mit viel Geld Probleme zu lösen. Solche Finanztransfers bringen nichts. Meist versickert das Geld ir- gendwo, bis hin zu kriminellen Kanälen. Wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit in Europa sprechen, sprechen wir über die nationale Ebene. An welche Länder denken Sie da? Große Sorge bereitet Italien. Dort steigen die Staatsausgaben und die Staatsschulden Wie geht es Ihnen mit dieser inneren Spaltung – Sie verteidigen die EU, sind leidenschaftlicher Europäer, lehnen aber ZUR PERSON Als „Leidenszeit“ beschrieb Jürgen Stark einst seine letzten eineinhalb Jahre als Chefvolkswirt der Eu- ropäischen Zentralbank (EZB). Deren Beschluss im Jahr 2010, Staatsanleihen von Euro-Krisenländern zu kaufen, war nicht in seinem Sinn. Im September 2011 zog er die Konsequenz und trat zurück. In einem Interview erklärte der damals 64-Jährige wenige Monate später den Grund für seinen Rückzug: „Dass ich nicht zufrieden bin, wie sich diese Währungsunion entwickelt hat. Punkt.“ Der ehemealige Beauf- tragte für Wirtschaftsgipfel des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl gilt selbst als Architekt des Euro-Stabilitätspakts. Euro an Zinsen zahlen, 2024 sind es schon 40 Milliarden. Länder, die nicht solide wirtschaften, werden an den Finanzmärk- ten bald noch viel höhere Zinsen zahlen müssen. Die ersten Schritte dabei werden übrigens veränderte Einstufungen der Ra- ting-Agenturen sein. Und WWU-Länder, die nicht gegen- steuern, gehen eben pleite und müssen raus aus dem Euro? Nicht unbedingt. Der Anreiz wäre sehr groß, frühzeitig gegenzusteuern. In den vergangenen 25 Jahren hat die EZB den Deutschen weniger Inflation gebracht also zuvor die Bundesbank. Wo- her kommen die Zweifel am Euro? Die EZB hat vom Ergebnis her in den ers- ten 20 Jahren einen guten Job gemacht und die Inflation unter zwei Prozent gehal- ten. Sie hat dabei allerdings auch von ei- nem Globalisierungsschub profitiert. Gro- ße Länder mit vielen günstigen Arbeitskräf- ten wurden in den Welthandel integriert. Die internationale Arbeitsteilung hat sich verstärkt. Das hat für günstige Herstellungs- kosten gesorgt. Dazu kam ein starker glo- baler Wettbewerb der Unternehmen. All das hat zu niedrigen Preisen und geringer Inflation beigetragen. Wir erleben seit vier bis fünf Jahren, dass sich das umkehrt. Der Job wird schwieriger, und der EZB sind in solchen herausfordernden Zeiten bereits wiederholt große Diagnosefehler unterlau- fen. Welche? 2014 hat die EZB eine große Deflation er- wartet. Das war eine Fehleinschätzung. Die Reaktion auf diese Fehldiagnose waren die gigantischen Programme zum Ankauf von Wertpapieren, insbesondere Staatsanlei- hen, und Negativzinsen. Den Preis dafür bezahlen wir wie gesagt heute. 2021 und 2022 hat die EZB dann zu spät auf die er- kennbar steigenden Preise reagiert. Was dürfen die Bürger mit Blick auf Inflation und Zinsen erwarten? Kurzfristig dürften die Inflation und Zin- sen im Euroraum sinken. Mittelfristig wer- den die Umkehr der Demografie, also die Alterung der europäischen Bevölkerung, und die Umkehr der Globalisierung be- deutend. Das heißt, das Angebot an Ar- beitskräften in Europa sinkt, was zu höhe- ren Löhnen und damit steigenden Preisen führen dürfte. Zugleich verlieren wir auf- grund der Geopolitik ein Stück weit die Vorteile großer integrierter Weltmärkte. Die Lieferketten werden kürzer, die Produktion wird teilweise aus Ländern mit niedrigen Arbeitskosten zurück verlagert. Auch das sorgt tendenziell für steigende Preise. Dazu kommt eine steigende nachfragegetriebene Inflation in den USA aufgrund der dorti- gen sehr hohen schuldenfinanzierten Aus- gabenprogramme. Unterm Strich heißt das für die nächsten Jahre wahrscheinlich: hö- here Inflation und höhere Zinsen. Das Gespräch führte Stephan Balling. Jürgen Stark Dem Projekt des Euro blieb Jürgen Stark auch nach seinem Rücktritt aus dem EZB-Direktorium verbunden. © Tobias Koch der vergangenen Europapolitik die 25 Jahre weit überwiegend ab. Meine Position lautet schlicht: zurück zu Maastricht! Maastricht war besser, als vie- le heute sagen. Das Konzept war konsis- tent. Es gab keine Lücken in den damali- gen Regeln. Ich bin überzeugter Europäer, nur dorthin, wo wir Europa hingesteuert haben, sei es durch die Politik der EZB oder die dauerhaften Rettungsfonds für einzelne Staaten, das hat nichts mehr mit dem ursprünglichen Konzept zu tun. Die EZB ist über ihr Mandat hinausgegangen. Mit dem 2011 initiierten ESM wurde der Maastricht-Vertrag bewusst umgangen. Deutsche Europarechtler sprechen von ei- nem kontinuierlichen Rechtsbruch in Europa. Mit welchem moralischen An- spruch tritt die EU-Kommission als Hüte- rin der Verträge eigentlich auf, wenn sie Mitgliedsländern im Osten Europas Ver- stöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor- wirft? Hier ist schon viel Doppelmoral im Spiel. Europa steht unter wachsendem au- ßenpolitischen Druck. Ist da die ökono- mische Debatte über ein paar Milliarden Euro für die Rettung von Euro-Staaten, die im Zweifel die EZB druckt, nicht kleinlich? Keineswegs. Es geht doch darum, ob damit die Strukturprobleme auf nationaler Ebene gelöst werden. Und das ist sicher nicht der Fall. Die Währungsunion fußt auf Regeln. Wenn man gegen diese Regeln verstößt, wird das in der Zukunft zu schmerzhaften Anpassungen führen. Deshalb ist es ein Problem, dass die EU-Kommission nicht klarer die Einhaltung der Haushaltsregeln durchsetzt, und dass der ESM Fehlanreize für die Mitgliedsstaaten der Währungsuni- on setzt, sich stärker zu verschulden, als es tragfähig ist. Wenn wir heute nicht an die Defizite und Unzulänglichkeiten herange- hen, werden wir später einen hohen Preis bezahlen. Welchen? Mario Draghi wurde einst gefeiert für seine berühmte Rede als EZB-Präsident, die EZB werde alles unternehmen, was nötig sei, um den Euro zu retten. Heute zahlen wir mit den massiven Bilanzverlusten der Zen- tralbanken den Preis für seine Politik. Das Europäische Parlament hat in seiner letzten Sitzungswoche vor der EU- Wahl einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zugestimmt. Wie be- werten Sie das? Positiv daran ist, dass die Referenzwerte von 60 Prozent für die Staatsschuldenquo- te und drei Prozent für die Defizitquote er- halten geblieben sind. Aber an die Stelle des bisherigen Systems der multilateralen Überwachung der Schulden treten künftig die bilateralen Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und den nationalen Regierungen. Das wird zu großer Intrans- parenz führen und zu einem weiteren Schuldenanstieg. Die Maastricht-Idee, dass es Regeln für die Staatsschulden gibt, die über- wacht werden, funktioniert nicht. Das ist wie ein Fußballspiel ohne Schiedsrichter. Es gibt einen Schiedsrichter, sogar zwei, nämlich die EU-Kommission und die na- tionalen Finanzminister in der Eurogrup- pe, aber die sind leider sehr schwach. Au- ßerdem sollen hier Sünder über Sünder richten, das in der Tat schlecht. Ich habe schon länger für einen unabhängigen Fiskalrat plädiert, an dessen Votum niemand vorbeikommt. Diesen gibt es zwar seit 2016, aber er ist lediglich bera- tend für die Kommission tätig, ohne tat- sächlichen Einfluss. funktioniert Sollte dieser Fiskalrat dann auch ein Veto-Recht für die nationalen Haushalte haben? Nein. Das wäre natürlich ein zu starker Eingriff in die nationale Souveränität und das Haushaltsrecht der nationalen Parla- mente. Es geht vor allem um Transparenz. Was hilft es, wenn Regelbrüche trans- parent, aber am Ende nicht sanktioniert werden? Sie werden sanktioniert, und zwar über die Finanzmärkte, insbesondere wenn die An- leger transparente Informationen haben. Wer höhere Schulden hat, muss höhere Zinsen zahlen. Das ist ein scharfes Schwert, insbesondere in einem veränderten Zins- umfeld. Wir sehen das in Deutschland. Der Finanzminister musste 2021 3,5 Milliarden

10 EUROPAWAHL 2024 Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 Mehr Schein als Sein RÜSTUNG Die EU wirbt für länderübergreifende Zusammenarbeit, um unab- hängiger zu werden. Die Ziele gelten unter Experten als zu hoch gegriffen Kritischer Blick auf die Munition: Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen, Bundeskanzler Olaf Scholz, Rheinmetall-Chef Armin Papperger und Verteidigungsminister Boris Pistorius beim gemeinsamen Besuch des Hauptwerks von Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß. © picture-alliance/dpa/Philipp Schulze Bundeskanzler Olaf Scholz, Verteidigungsminister Boris Pistorius und die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen greifen beherzt zur Schaufel. Im Februar set- zen die drei gemeinsam den Spatenstich in Unterlüß. Mitten in der Lüneburger Heide baut Rheinmetall dort eine neue Muniti- onsfabrik. Warum Frederiksen an dem Ter- min teilnimmt, ist unklar. Schließlich be- tont selbst Rheinmetall, dass das Werk zur Sicherung der strategischen Souveränität Deutschlands beitragen soll, also vor allem die Bundeswehr versorgt. In seiner Rede lobte Scholz hingegen die Zusammenar- beit mit den Dänen in Rüstungsfragen. Der Termin wirkt widersprüchlich – und ist damit in gewisser Weise ein Abbild des Zu- sollen stands der europäischen Rüstungsindustrie. Die EU-Kommission will erreichen, dass bis 2030 mindestens 40 Prozent der Rüs- tungsgüter gemeinsam gekauft werden. Einkaufsgemeinschaften höhere Mengen ordern und so im Bestfall günstige Preise aushandeln. Ebenso sollen bis da- hin mindestens 50 Prozent der Ausgaben für Rüstungsgüter in die EU fließen. Bis 2035 soll der Anteil sogar auf 60 Prozent steigen. Diese beiden Vorhaben sollen die Souveränität der EU steigern und die Zu- sammenarbeit im Binnenmarkt fördern. Dass dieser Plan aufgeht, daran glaubt zu- mindest Christian Mölling nicht. Er ist stellvertretender Direktor des Forschungs- instituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und durch den Ukraine- Krieg zu einem der bekanntesten deut- schen Experten für Sicherheitspolitik ge- worden. „Das erste Problem des Vorhabens ist bereits, dass gar keiner weiß, wie diese Prozentzahlen zustande kommen“, sagt Mölling. „Das zweite, dass die EU bereits seit 1996 versucht, die Verteidigung als normalen Markt zu sehen. Aber das ist er einfach nicht.“ Geld für die Forschung Die EU hat schon oft versucht, die Rüstungsindustrie finan- ziell zu unterstützen: Thierry Breton, EU- Kommissar für Binnenmarkt, Dienstleis- tungen, Verteidigung und Raumfahrt, hatte Anfang dieses Jahres etwa einen EU-Vertei- digungsfonds über 100 Milliarden Euro ge- fordert. Bekommen hat er 1,5 Milliarden Euro. „Das ist fast schon eine homöopathi- sche Behandlung für einen Markt, der etwa 90 Milliarden Euro groß ist“, sagt Mölling. Dazu kommt: Das Geld soll wohl vor allem in die Forschung fließen und nicht in drin- gend benötigte Produktionskapazitäten. Seit Russlands Angriffskrieg ist der Rüs- tungsbedarf drastisch gestiegen. So schnell kommt die Angebotsseite nicht hinterher. Ein Grund dafür ist, dass die Rüstungsin- dustrie per Gesetz nur auf Vorrat produzie- ren darf, wenn die Bundesregierung eine auf Aufträgen basierende Ausnahmegeneh- migung erteilt. Auch die sogenannte Ska- lierbarkeit ist ein schwieriges Thema in der Rüstungsindustrie. Große Stückzahlen sind derzeit von den Anbietern in der EU kaum zu bewerkstelligen. Philipp Schröder, Professor für internatio- nale Wirtschaft an der Universität Aarhus, ist trotzdem optimistisch, dass mehr Ko- operation auf EU-Ebene gelingen kann. Zugleich kennt er die besonderen Spielre- geln des Sektors, die einen nachhaltigen Wandel erschweren: „Die Rüstungsindus- trie lebt von Kompensationsgeschäften“, sagt er. Rüstungsgeschäfte sind oft ein Ge- ben und Nehmen. Bedeutet: Kauft etwa Dänemark Panzer von Rheinmetall, dann müsse Deutschland in der Regel im glei- chen Wert Rüstungsgüter aus dem Nach- barland einkaufen, sagt Schröder. Mehr Zusammenarbeit könnte den Aus- tausch zwischen Ländern fördern. Den fragmentierten Rüstungsmarkt mahnte im März auch EU-Kommissionsvizepräsiden- tin Margrethe Vestager an. So würden oft fünf verschiedene Arten einer Waffe produ- ziert, was zu einer ineffizienten Produktion und zur Verschwendung von Steuergeldern führe. Solche Konstruktionen gelte es ab- zubauen. Mölling nennt als Vorbild die militärische Luftfahrt: „Die Entwicklung in diesem Bereich ist so teuer geworden, dass hier schon eine Konsolidierung stattgefun- den hat und erfolgreiche Kooperationen wie Airbus Defence entstanden sind.“ inzwischen Standorte Dual-Use-Sektor Möllings Forscherkollege Philipp Schröder aus Aarhus hat vor allem bei jungen Unternehmen und im Dual- Use-Sektor Hoffnung auf mehr Miteinan- der, also bei Produkten, die sowohl fürs Militär als auch für die Industrie oder End- kunden interessant sein können. Ein Bei- spiel dafür sind Drohnen. „Diese oft tech- nik- und IT-lastigen Unternehmen sind global so groß geworden, dass man sie gar nicht einer Nation zuordnen kann“, sagt der Ökonom. „Sie profitieren extrem vom aktuellen Boom der Rüstungsindustrie und haben damit ein Stück weit das Potential, alte und verkrustete Strukturen in der Branche einzureißen.“ Eines der aufstrebenden Unternehmen die- ser Art ist Helsing. Das Rüstungs-Startup verkauft Software und Steuertechnik mit Künstlicher Intelligenz. An dem 2021 ge- gründeten Münchner Unternehmen hat sich unter anderem die schwedische Saab- Gruppe beteiligt. Nach Medienberichten wurde das Startup zuletzt mit 1,7 Milliar- den Euro bewertet. Damit ist Helsing das erste Rüstungs-Einhorn Europas, ein milli- ardenschwerer Neuling in der boomenden Branche. Helsing hat in Deutschland, Frankreich und im Vereinig- ten Königreich, ist bei allen drei Ländern beim Militär unter Vertrag. Derzeit fokus- siert sich die Arbeit des Startups auf die Ukraine. Und genau das war auch von An- fang an der Fokus Helsings, sagt Charlotte Weil von der Ahe, Director Communicati- ons and Government Affairs. „Helsing wur- de schon bei der Gründung europäisch ge- dacht.“ Die Zusammenarbeit in Europa ge- stalte sich in diesem Gebiet allerdings wei- terhin schwierig. „Dabei sollte es mittler- weile eine Binse sein, dass kein europäi- sches Land allein in der Lage sein wird, sich ohne Abstützung auf Partner selbst zu verteidigen.“ In diese Kerbe schlägt auch Ökonom Schrö- der. „Wir haben uns mit dem Wunsch nach nationaler Souveränität eine Illusion ge- schaffen. Dabei ist es schlicht nicht mög- lich, dass eine kleine Nation alle Bereiche der Rüstung abdeckt oder große Technolo- giefelder wie die Überwachung überhaupt allein stemmen kann.“ Womöglich führt diese Erkenntnis ja dazu, Staatenlenker und Rüstungsindustrie von den Vorteilen der verstärkten Kooperation zu überzeugen. Dann gäbe es bald vielleicht auch mehr Be- suche ausländischer Minister – und weniger Rätselraten. Jennifer Spatz T Die Autorin ist Journalistin der Finanz- und Wirtschaftsredaktion wortwert. Im Konkurrenzkampf mit den USA und Asien TECHNOLOGIE Damit die EU bis 2050 klimaneutral wird, setzen die Mitgliedstaaten unter anderem auf Batterien und Wasserstoff Die EU soll technologisch unabhängiger werden. Das fordern in trauter Einigkeit der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ge- nauso wie die EU-Kommissarin für Wettbe- werb Margrethe Vestager. Und beide ver- weisen dabei gern auch auf die notwendi- gen Technologien für die Energiewende. Vor allem beim grünen Wasserstoff stehen viele Projekte und Vorhaben derzeit noch ganz am Anfang. Laut EU-Kommission hat Wasserstoff im Jahr 2022 gerade mal zwei Prozent zum Energieverbrauch in Europa beigetragen. Und das war auch noch fast ausschließlich sogenannter grauer Wasser- stoff, der mit Erdgas hergestellt wird und bei dessen Produktion wiederum große Mengen CO2 entstehen. Die EU ist noch weit entfernt von ihrem Ziel, bis 2030 bis zu zehn Millionen Tonnen grünen Wasser- stoff zu produzieren. 150 Gigawatt angestrebt „Unternehmen in der EU planen aktuell Elektrolyse-Pro- jekte mit einer Leistung von 150 Gigawatt Elektrolysekapazitäten bis 2030“, berichtet Uwe Remme, Leiter des Teams für Wasser- stoff und alternative Kraftstoffe bei der In- ternationalen Energie Agentur (IEA). „Al- lerdings sind bisher nur drei Gigawatt da- von finanziert, im Bau oder bereits in Be- trieb.“ Viele Projekte dagegen befinden sich erst in einem frühen Entwicklungssta- dium. Um den Ausbau zu beschleunigen, hier hat die EU-Kommission im Februar 2024 für 33 Wasserstoff-Projekte finanzielle För- dermittel genehmigt, die als „Important Project of Common European Interest“ gelten – als Projekte, die das Wirtschafts- wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken sollen. Mehr als zwei Drit- tel dieser Vorhaben kom- aus Deutschland. men Bund und Länder sollen sich zudem mit 4,6 Milliarden Euro beteili- gen. Zusätzlich hat auch noch die Europäische Was- serstoffbank ihre Arbeit auf- genommen, ein neues In- ebenfalls strument, finan- Wasserstoffprojekte zieren soll. Damit die EU ihr Potenzial in der grünen Wasserstoff- produktion ausschöpfen kann, müssen die Mitgliedstaaten indes deutlich mehr kooperieren. Zu diesem Er- gebnis kommt eine Analyse des Fraunho- fer-Instituts für System- und Innovations- forschung ISI und der Deutschen Energie- Agentur. Den Studienautoren zufolge wä- ren die europäischen Staaten grundsätzlich in der Lage, sich zu wettbewerbsfähigen Preisen selbst mit Wasserstoff zu versorgen. Insbesondere Norwegen, Spanien und Frankreich hätten die Kapazitäten, mehr das »Die Energiewende ist auch von Technologie abhängig.« Uwe Remme, Interna- tionale Energieagentur Wasserstoff zu produzieren als sie für ihren eigenen Bedarf bräuchten. Doch die Büro- kratie bremst aus: „Staaten brauchen häu- fig lange, um Maßnahmen und Instrumen- te zur Unterstützung der sauberen Wasser- stoffproduktion und dessen Nutzung in die Wege zu leiten. Das verzögert wieder- um Investitionsentschei- dungen auf Seiten der In- dustrie“, sagt IEA-Experte Uwe Remme. Er geht da- her davon aus, dass sich die EU künftig nicht au- tark, sondern mit einer Mi- schung aus Importen und eigens hergestelltem Was- serstoff versorgen wird. Dabei geht es nicht nur um Versorgungssicherheit. „Die ist auch von Technologie ab- hängig“, sagt Remme. Eine Studie der IEA zeigt, dass derzeit das 60 Prozent der globalen Fertigungskapazi- täten für Elektrolyseure – das sind Anlagen zur Wasserstoffproduktion – in China ent- stehen, gefolgt von Europa, wo immerhin noch 20 Prozent der Elektrolyseure gebaut werden. „Da sich der Markt noch in einer relativ frühen Phase befindet, kann das für Europa eine Gelegenheit sein, die eigenen Fertigungskapazitäten auszubauen“, sagt der Energieexperte. Energiewende Geht es nach dem Willen der EU-Politik, sollen künftig auch die in der EU verbau- ten Batterien größtenteils aus europäischer Produktion kommen. Nach Prognosen der Umwelt- und Verkehrsorganisation „Trans- port & Environment“, dem größten Um- weltdachverband Europas, sollen die soge- nannten Gigafactories im Jahr 2030 in Europa eine Produktionskapazität für Bat- teriezellen 730 Gigawattstunden (GWh) haben. Das würde für die Ausstat- tung von rund 12,7 Millionen E-Autos rei- chen. in Deutschland wie jene von Tesla in Grün- heide und von Northvolt in Dithmarschen könnten bis zum Jahr 2030 mit einem An- teil von 430 GWh dazu beitragen, schätzt das Fraunhofer-ISI-Institut. Produktionsstätten Allein von rückläufig. Geringere Fördermittel Ob das gelingt, hängt auch von den künftigen Rahmenbe- dingungen für die Batterietechnologie ab. Zurzeit sind die Energiekosten in Europa hoch und Fördermittel In Deutschland sperrte zudem die Regierung nach dem Schuldenbremsen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Klima- und Transformationsfonds. Auch das bremst die Batterieforschung aus, für die nun rund 110 Millionen Euro weniger zur Verfügung steht. „Wir müssen aufpassen, dass das, was wir in Europa in den vergangenen zehn bis 15 Jahren aufgebaut haben, nicht in weni- gen Jahren wieder zusammenbricht“, warnt Axel Thielmann, Leiter des Compe- tence Centers Neue Technologien am Fraunhofer-Institut ISI. Denn der Konkur- renzkampf auf dem Batteriemarkt wird härter. Asiatische Staaten wie China, Japan und Südkorea verfügen über einen hohen Erfahrungsschatz beim Thema Batterien, sind wettbewerbsfähig und entwickeln schnell neue Technologien. In den USA sorgt wiederum der milliardenschwere In- flation Reduction Act dafür, dass Unterneh- men aus dem Sektor hohe Zuschüsse, Steu- ergutschriften und Darlehen erhalten. Thielmann sieht im Batteriefach ähnlich wie beim Thema Wasserstoff noch Luft nach oben, wenn es um die Kooperation in der EU geht. „Wir brauchen in Europa eine stärkere Arbeitsteilung“, sagt er. Und macht einen konkreten Vorschlag: „Man- che Staaten könnten sich stärker auf die Rohstoffproduktion konzentrieren, andere kümmern sich um das Recycling. Je nach- dem, wer die besseren Zugänge hat zu Res- sourcen, erneuerbarer Energie, Fachkräften und Absatzmärkten.“ Thielmann ist sich si- cher: Gemeinsam könnten die europäi- schen Staaten gegen die Konkurrenz aus al- ler Welt bestehen. Ob sie es auch können, ist eine Sache des Willens. Marie Welling T Die Autorin ist Volontärin bei der Redaktion wortwert. Maximilian Krah Donaueschingen Ein völkischer Kandidat zum Verstecken Schlechter kann es nun wirklich nicht lau- fen: Als die AfD Ende April im baden-würt- tembergischen ihren Wahlkampf für die Europawahl einleitet, fehlt ausgerechnet der Spitzenkandidat an der Seite der beiden Parteivorsitzenden Ali- ce Weidel und Tino Chrupalla. Denn Maxi- milian Krah ist in diesen Tagen kein Kandi- dat zum Vorzeigen: Erst wurde einer seiner Mitarbeiter wegen des Verdachts der Spio- nage für China in Untersuchungshaft ge- nommen. Dann leitete auch noch die Ge- neralstaatsanwaltschaft Dresden ein Vorer- mittlungsverfahren gegen Krah wegen möglichen Geldzahlungen aus Russland und China ein. Die AfD verzichtet also lieber auf den Auf- tritt Krahs – „um den Wahlkampf und das Ansehen der Partei nicht zu belasten“. Auswechseln kann sie ihren Spitzenkandi- daten nicht mehr, dafür ist die Frist verstri- chen. Offiziell weist die AfD die Anschuldi- gungen ebenso wie Krah selbst, der seit 2019 im Europäischen Parlament sitzt, als Verleumdung zurück. Doch Chrupalla stellt sicherheitshalber fest: „Wer nachweislich käuflich ist, der muss gehen.“ Rund einen Monat später kracht es er- neut. Krah wird endgültig mit einem Auf- trittsverbot durch den Parteivorstand be- legt und räumt obendrein seinen Posten im Bundesvorstand. Auslöser ist ein Inter- view mit der italienischen Zeitung „La Repubblica“, in dem Krah sagt, dass Mit- glieder der SS-Truppe in der NS-Zeit „nicht alle Verbrecher“ gewesen seien. Die Vorsitzende der französischen Partei Rassemblement National (RN), Marine Le Pen, kündigte daraufhin die Zusammen- arbeit mit der AfD in Europa auf. In der Vergangenheit war es wiederholt zu Spannungen zwischen den deutschen und französischen Rechten gekommen. Bislang bildet der RN gemeinsam mit der AfD, der italienischen Lega und der öster- reichischen FPÖ die Fraktion „Identität und Demokratie“ im EU-Parlament. Als wäre die Causa Krah für die AfD nicht schon problematisch genug, liegen ge- gen den Mann hinter ihm auf der Kandi- datenliste ebenfalls justiziable Vorwürfe vor. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron soll Geld aus dem Umfeld des von Russland finanzierten Propagan- daportals „Voice of Europe“ Geld erhal- ten haben. Der Bundestag hob die Immu- nität Bystrons auf, um Durchsuchungen auf Anordnung des Oberlandesgerichts München zu ermöglichen. Der Anfangs- verdacht lautet Bestechlichkeit und Geld- wäsche. Maximilian Krah Die Vorwürfe gegen Krah und Bystron wie- gen schwer. Vor allem für eine Partei wie die AfD, die so gerne an den Nationalstolz ap- pelliert und deren Vertreter vom rechten Flügel anderen Parteien schon mal das La- bel „Volksverräter“ anheftet. Zum rechten Flügel gehört der 1977 im sächsischen Rä- ckelwitz geborene Krah allemal, liegt auf ei- ner Wellenlänge mit dem thüringischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft Äu- ßerungen Krahs als völkisch-nationalistisch und verfassungsfeindlich ein. Für die EU hat der Jurist, den Parteifreunde auch schon mal „Schampus-Max“ nennen, nichts übrig. Man müsse ihr den „Stecker ziehen“ und ein „neues Betriebssystem aufspielen“. Europa, so definiert es Krah in seiner Weltsicht, das seien „die Germanen, die Romanen und die Slawen, die nicht von Konstantinopel aus christianisiert“ wurden. Unverhohlen wirbt er für einen Austritt aus der EU. Deutschland sei wie ei- ne Frau, die zu Hause geschlagen werde. „Die geht auch nicht freiwillig, in der Re- gel muss man ihr helfen, eine Alternative aufzeigen.“ aw T a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p ©

Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 DAS POLITISCHE BUCH 11 KURZ REZENSIERT Franziska Davies (Hg.): Die Ukraine in Europa. Traum und Trauma einer Nation. wbg Theiss, Darmstadt 2023; 360 S., 29,00 € „Russland ist ein europäisches Land“, betonte einst Zarin Katharina II. Eine ähnliche Botschaft verkündete ein „ge- rührter“ Präsident Wladimir Putin den Bundestagsabgeordneten am 25. Sep- tember 2001: „Russland ist ein freund- lich gesinntes europäisches Land“. Zwei Jahrzehnte später war das gleiche Europa in den Augen des Kremlherr- schers zum Erzfeind mutiert, wagten es doch die Europäer, „einen Teil Russ- lands“, die Ukraine, zu erobern. Werden die Europäer die Ukraine weiterhin den sicherheitspolitischen Interessen Mos- kaus opfern? Oder ersetzen sie ihre Russ- land-Fixiertheit durch eine Politik, die das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine res- pektiert und durchzusetzen hilft? Es brauchte erst den brutalen Angriffs- krieg vom 24. Februar 2022, um eine Reihe exzellenter Bücher über die Ukrai- ne zu veröffentlichen. Zu ihnen gehört der informative und empfehlenswerte Sammelband über die historische Zuge- hörigkeit der Ukraine zu Europa. Bis vor Kurzem war das osteuropäische Land „für die meisten Deutschen ein blinder Fleck“, schreibt Herausgeberin Franziska Davies. Die „Nichtexistenz der Ukraine“ auf der geistigen Landkarte des Westens habe eigene Gründe und eine kompli- zierte Geschichte: Nicht nur das russi- sche Imperium, sondern auch die Groß- mächte Polen-Litauen, die Habsburger Monarchie und später das kaiserliche Deutschland verfolgten in der Ukraine ihre jeweiligen Interessen, insbesondere Gebietsansprüche. Auf diese Weise wur- de die Ukraine polonisiert, russifiziert, kolonisiert und bis zum Zerfall der Sow- jetunion auch sowjetisiert. Viele Vorwürfe und Vorbehalte zwischen Deutschen und Ukrainern erläutert der bekannte ukrainische Intellektuelle Jurko Prochasko. Er widerspricht dem „Kardi- nalvorwurf“ der vermeintlich „nationalis- tischen“ Ukrainer: Während die Kritiker den ukrainischen „Nationalismus“ dämo- nisierten, verharmlosten sie gleichzeitig den russischen Imperialismus. manu T Raffael Scheck: Frühling 1940. Wie die Menschen in Europa den West- feldzug erlebten. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024; 445 S., 28,00 € Für Bundeskanzler Helmut Kohl war die europäische Einigung eine „Frage von Krieg und Frieden“. Und er verwies in diesem Zusammenhang gerne auf seine pfälzische Heimat. Dort, nur wenige Kilo- meter von der französischen Grenze ent- fernt, wisse man dies besonders gut. Wer sich noch einmal höchst eindringlich ins Gedächtnis rufen möchte oder sollte, was Kohl meinte, dem sei das Buch „Frühling 1940“ des Historikers Raffael Scheck wärmstens empfohlen. Rund 20 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs kämpfen im Mai und Juni 1940 die mitunter gleichen deutschen, französischen und britischen Soldaten beziehungsweise deren Söhne auf iden- tischen Schlachtfeldern des letzten Krie- ges erneut gegeneinander. Scheck inte- ressiert aber weniger der konkrete Kriegsverlauf, sondern die persönlichen Erlebnisse, Gedanken und Ansichten der einfachen Soldaten und Zivilisten, die er anhand von Briefen. Tagebüchern und anderen Quellen anschaulich darstellen und einordnen kann. Im Gegensatz zu 1914 herrscht auf bei- den Seiten der Front nur wenig Kriegsbe- geisterung. Vielen sind die Schrecken der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ noch durchaus gegenwärtig. Dies ändert sich bei den Deutschen erst aufgrund des schnellen Sieges über Frankreich in wenigen Wochen. Und sie folgen mehr- heitlich dem Narrativ Hitlers, die Schan- de des Versailler Vertrages sei damit ge- tilgt und man hätte bereits den letzten Krieg gewinnen können, wenn die Deut- schen nur einig gewesen wären. Auch auf der anderen Seite des Rheins stellt man einen Zusammenhang zwi- schen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg her. „Wir hofften immer im letzten Krieg, unseren Kindern diese Prüfung ersparen zu können, aber die Idiotie des Vertrages von 1918 machte diese Wiederholung un- vermeidlich“, schreibt ein französischer Vater an seinen Sohn bei der Armee. Und fügt an: „Hoffentlich werden wir diesmal weniger dumm sein.“ aw T Stürmische Zeiten in Europa: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse sieht das Friedensprojekt durch nationale Egoismen bedroht. © picture alliance/Bildagentur-online/Sunny Celeste EUROPA Robert Menasses flammendes Plädoyer für eine Union frei von nationalen Egoismen Das bedrohte Projekt Es tobt ein Krieg in Europa. offiziell gestrichen ist“. Da bleibt schon die Frage, wer hier eigentlich was hört – und warum. Das „Einigkeit und Recht und Frei- heit“ der Deutschen ist ihm hingegen kei- ne Zeile wert, obwohl es doch genau diese Werte sind, die sich Menasse für Europa wünscht. Aber dies hätte wohl den Haut- gout von „deutschem Führungsanspruch“, der ihm so zuwider ist. Ein Nicht nur auf den Schlachtfel- dern der Ukraine, sondern auch in der Europäischen Uni- on, die doch eigentlich ein Friedensprojekt sein will. Dort werden die Bürger zu den Waffen und zum Schließen der Reihen gerufen, wird ein Sol- datenlied inmitten von Kanonendonner und Flintenschüssen gesungen, dem Feind zum Schreck. Ein Priester schreitet einem christlichen Heer voran, Söhnen und Ge- fährtinnen werden die Kehlen durchge- schnitten und mit dem Säbel wird zurück- geholt, was eine fremde Übermacht nahm. Man greift zum Schwert, so scharf und blank, tränkt die Furchen der Felder mit unreinem Blut, marschiert gegen Kanonen und stirbt glorreich in der Schlacht. Für das Vaterland, die Heimaterde, die Nation, das heldenhafte liebe Land. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat all die kriegerischen und blu- tigen Sentenzen aus den Nationalhymnen der EU-Mitgliedstaaten sowie zweier Bei- trittskandidaten neu arrangiert: „Das ist al- so die ideelle Gesamthymne des Friedens- projektes EU.“ Ist das noch beißende Pole- mik oder doch schon bittere Resignation? Wahrscheinlich eine Melange. Zweifelsoh- ne hat Menasse mit seinem rund 190 Sei- souveränes ten umfassenden Essay „Die Welt von Mor- gen. demokratisches Europa– und seine Feinde“ ein flammen- des Plädoyer für das europäische Friedens- projekt zu Papier gebracht. Oder – je nach Lesart – eine geharnischte Streitschrift ge- gen all jene, die dieses Projekt bedrohen. So ganz neu ist das aller- dings nicht, vieles davon hat man von Menasse be- reits in den vergangenen Jahren gelesen und gehört. Ganz oben auf seiner Liste der Bedrohungen steht der Nationalismus. Dieser ha- be größten Menschheitsverbrechen ge- führt und Europa verwüs- tet“. Diese auf den ersten Blick so binsenhafte Wahr- heit erscheint längst nicht mehr als Binse, wenn man all den nationalistischen Tönen lauscht, die aktuell auf dem Konti- nent angestimmt und auch in konkrete Po- litik umgesetzt werden. Für Menasse ist jedenfalls klar, dass das Konzept der Nation und damit auch die Idee von einem Europa der Nationalstaa- ten überwunden werden muss. Und so stellt er das folgnde Paradigma „als Voraus- den „zu setzung für alle weiteren Diskussionen über die EU“ auf den ersten Seiten seines Buches auf: „Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten.“ Kein Argument zur Verteidigung der Nati- onsidee, des Nationalstaats und national- staatlicher Souveränität, so führt Menasse später aus, „hält unseren Erfahrungen stand, unserem Wissen und nicht einmal wie immer ge- arteten Halbwissen“. Wer sich daran stört, wenn Autoren ihre eigenen Argu- mente und Thesen mit ei- nem wie auch immer defi- nierten kollektivem „wir“ zusätzliche Autorität zu ver- leihen hoffen, der sollte vielleicht lieber die Finger lassen von der Lektüre. Denn Menasse tut dies nur zu gern. Zum Beispiel wenn er die Frage aufwirft, warum die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg Krieg und das „na- tional wiedergeborene Deutschland“ nach der Wiedervereinigung an der Haydn-Me- lodie seiner Nationalhymne festhielt, „bei der wir das ;Deutschland, Deutschland über alles ja doch mithören, auch wenn es »Europäische Nationen sind bewusst und planvoll in einen nachnationalen Prozess eingetreten.« Robert Menasse Zauber der Anfänge, fort von den Ideen und Idealen der Gründergeneration“. Die Schuld daran verortet Menasse auch bei Staats- und Regierungschefs wie Bun- deskanzlerin Angela Merkel, die die Euro- päische Kommission als „Garantin des ge- meinsamen Interesses der Union“ zur Seite drängten. Der Rat heble die Gemein- schaftsmethode aus. Dies widerspreche den europäischen Verträgen. Ganz gleich wie man zu den politischen Positionen Menasses stehen mag, die Lek- türe seines Essays lohnt – „vielleicht zu Je- dermanns Nutzen: Diskutieren wir das!“, wie er schreibt. Oder auch nur deswegen, weil Robert Menasse ein überzeugter Euro- päer ist. Und von denen gibt es derzeit nicht all zu viele. Alexander Weinlein T Robert Menasse: Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa und seine Feinde. Suhrkamp, Berlin 2024; 192 S., 23,00 € Blick ins schwarze Loch Robert Menasse ist wahrlich kein Unbekannter, wenn es um die Befindlichkeiten in Europa und die innere Verfasstheit der Europäischen Uni- on geht, Für seinen 2017 veröffentlichten Roman „Die Hauptstadt“ heimste er viel Lob von den Kritikern und den Deutschen Buchpreis ein. Seine Satire aus dem Innen- leben der Brüsseler Institutionen und ihrer bürokratischen Abgründe gilt als erster Ro- man über die EU überhaupt. Fünf Jahre später folgte mit „Die Erweiterung“ eine li- terarische Fortsetzung Brüssel, so schreibt er nun, erscheine im vorherrschenden politischen Europadis- kurs als schwarzes Loch, das die nationalen Demokratien zu verschlucken drohe. Dies sei zwar Unsinn, aber ein wirksamer. Die Chiffre „Brüssel“ spalte Europa tatsächlich. Und dies sei im Interesse linker und rech- ter Nationalisten. Europa drifte „fort vom Anzeige »Ein einzigartiges Unterfangen« GESCHICHTE Christoph Driessen erzählt die fesselnde Story der EU Ist es die Koketterie eines Buchautors wenn Christoph Driessen die Frage stellt, ob es möglich sei, die Geschichte der Europäi- schen Union „einigermaßen kompakt, ver- ständlich und vielleicht auch noch stre- ckenweise unterhaltsam zu erzählen“? Oder verbirgt sich dahinter die Sorge, dass die Geschichte der EU beziehungsweise ih- re Politik längst nicht mehr so viel Eupho- rie wie in ihren Anfangstagen auslöst? Dass die vielgescholtene Brüsseler Bürokratie so- wie das Wirrwarr unterschiedlichster Kom- petenzen von Europäischem Rat, Minister- rat, Kommission und Parlament sowie des Europäischen Gerichtshofes inzwischen viele Bürger hoffnungslos überfordert? Zu- mindest einer dieser Fragen lässt sich ein- deutig beantworten. Ja, die Geschichte der EU lässt sich verständlich und unterhalt- sam erzählen. Der deutsch-niederländische Journalist und Historiker Driessen beweist es mit seinem Buch „Griff nach Sternen“. Dies liegt zum einen an der „fesselnden Story“ selbst, die der Autor im Jahr 1941 auf der italienischen Insel Ventotene, auf der internierte Antifaschisten wie Altiero Spinelli die Vision eines zukünftigen föde- ralen europäischen Bundesstaates in einem Manifest skizzieren, beginnen und mit der Verleihung des Status eines EU-Beitritts- kandidats an die von Russland angegriffe- ne Ukraine im vergangenen Jahr enden lässt. Es mag wie eine bittere Ironie er- scheinen, dass die Idee von einem friedli- chen und geeinten Europa in den Schre- cken des Zweiten Weltkrieges erste Kontu- ren annimmt und rund 80 Jahre später er- neut die Angst vor einem großen Krieg in Europa umgeht. Journalistische Reportage Vor allem ge- staltet sich die Lektüre des Buches deshalb so unterhaltsam und kurzweilig, weil Driessen kein historisches Fachbuch im en- geren Sinne verfasst hat, sondern im Stil ei- ner eine journalistischen Reportage ange- legt hat. Seit 1993 war er als Auslandskor- respondent in Den Haag, London und New York tätig. Er kennt die europäische Christoph Driessen: Griff nach den Sternen. Die Geschichte der Europäischen Union. Friedrich Pustet, 2024; 288 S., 29,95 € und auch Weltpolitik somit aus einer sehr nahen Perspektive. Seit 2006 leitet er das Kölner Büro der Deutschen Presseagentur. So nimmt Driessen seine Leser beispiels- weise mit in das Reihenhaus von Helmut Schmidt in Hamburg Langenhorn, wo der deutsche Bundeskanzler mit dem französi- schen Staatspräsidenten Valéry Giscard d‘Estaing 1978 im Esszimmer ein gemein- sames Währungssystem für die EG-Mit- gliedstaaten ausbrüten während Schmidts Ehefrau Loki Kaffee serviert. Der Abend wird lang, die Politiker entledigen sich nach und nach Jacket und Krawatte, am Ende sitzen sie an der Hausbar. Es sind diese kleinen Anekdoten, von denen Dries- sen etliche auf Lager hat, und die die große Politik sehr nah und menschlich erschei- nen lassen. Abgerundet hat Driessen seine Darstellung mit Porträts ausgewählter europäischer Größen von Bundeskanzler Konrad Aden- auer bis zur EU-Parlamentspräsidentin Si- mone Veill sowie Erklärstücken zu den EU- Institutionen. Sein „Griff nach den Ster- nen“ ist die ideale Einstiegslektüre, an de- ren Ende man sich Helmuts Schmidts Ein- schätzung über die europäische Einigung anschließen kann: „Es ist in der Geschichte der Menschheit ein einzigartiges Unterfan- gen“ aw T Vom Kaiserreich zur Republik Walther Rathenau im „Zeitalter der Extreme“ Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 35. Jahrgang 2023 Herausgegeben von Prof. Dr. Eckart Conze, Prof. Dr. Dominik Geppert, Prof. Dr. Ewald Grothe, Dr. Wolther von Kieseritzky, Prof. Dr. Anne C. Nagel, Prof. Dr. Joachim Scholtyseck, Prof. Dr. Elke Seefried und im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit 2023, 332 S., brosch., 74,– € ISBN 978-3-7560-1331-9 E-Book 978-3-7489-1858-5 Anlässlich des 150. Jahrestages der Ermordung Walther Rathenaus 1922 ana- lysieren die Beiträge die Vielfalt und Widersprüchlichkeit des liberalen Außen- ministers, Intellektuellen und Unternehmers: Welche Ordnungskonzepte und Diskurse prägten den Übergang zur Demokratie im „Zeitalter der Extreme“? Nomos eLibrary nomos-elibrary.de Bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter nomos-shop.de Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer

12 IM BLICKPUNKT Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 Die Spitzen der deutschen Politik treffen sich in Berlin, um den Geburtstag des Grundgesetzes zu feiern. ©Bundesregierung/Steffen Kugler STAATSAKT Die Bundesrepublik und das Grundgesetz feiern 75. Jubiläum. Demokratiefeste gibt es in Berlin und Bonn »Nicht auf ewig garantiert« Sogar der Himmel über dem Platz man sich jedoch dafür, dass die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten solle, was eine schnellere Wiedervereinigung ermöglichte. Die folgenden Jahrzehnte seien von Einigkeit, Demokratie, eu- ropäischer Ver- bundenheit und ge- Wohlstand prägt gewesen. Doch Steinmei- er die Bürgerinnen und Bürger seiner Rede am Donnerstag auf herausfor- dernde Zeiten ein: „Es kommen raue, auch härtere Jahre auf uns zu“, mahnte der Bun- h c o K s i b o T © stellte in rausforderungen seien der Klimawandel und die Wirtschaftskrise sowie zunehmen- der Antisemitismus, Angriffe auf Mandats- träger und politisch Engagierte oder Fake News. Spannun- gen zwischen der Verfassung und der Verfassungs- wirklichkeit sei- en nicht zu über- sehen. Steinmei- er warnte daher, das Grundgesetz sei auf ewig garantiert“. Jeder Einzelne in Deutschland sei nun gefordert, sich für die Freiheit und Demokratie einzusetzen – ei- ne starke Gesellschaft brauche das Land. „nicht ... der Artikel 3 des Grundgesetzes: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Silvia Breher (CDU) »Wenn das Grundgesetz neben dem Schutz der Menschenwürde nur einen weiteren Artikel haben dürfte, dann wäre das für mich...« … Artikel 3. Wenn ich mir einen weiteren Artikel wünschen könnte, wäre das die Teilhabe der Jugend. Karamba Diaby (SPD) despräsident. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sei der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Da die Bedrohung seitens Russlands in naher Zukunft schwin- nicht den werde, müsse Deutsch- land mehr in seine Sicherheit Verteidi- und gung investie- ren, um die hie- sigen Werte ver- teidigen zu kön- nen. „Wer die Freiheit liebt, darf vor dem Aggressor nicht weichen“, sagte Steinmeier und forderte, auch die Debatte über den Wehrdienst nicht zu scheuen. Weitere He- Steinmeiner forderte auch die demokrati- schen Parteien zur Zusammenarbeit auf, um gegen Bedrohungen gegen die Demo- kratie vorzuge- hen. Am Ende appellierte der Bundespräsident: „Stehen wir heu- te zusammen ge- gen die Feinde der Demokratie, halten wir aus, was uns trennt, aber stärken das, was uns verbin- det“. Rund 1.100 geladene Gäste hatten sich auf dem Platz zwischen Bundestag und Bun- deskanzleramt versammelt, darunter die a - e r u t c i p © a p d / e c n a i l l ... der Schutz von Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat und der Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Stephanie Aeffner (Grüne) i l l a p d / e c n a a - e r u t c i p © zwischen Bundestag und Bun- deskanzleramt war am Donners- tagmittag festlich geschmückt: Drei Fallschirmspringer der Bun- despolizei, ausgestattet mit einer Deutschland-Fahne, einer Europa-Fahne und einer 75-Jahre-Fahne segelten über das Regierungsviertel und eröffneten damit den Staatsakt zum Jahrestag des Grundgesetzes. Am 23. Mai 1949, vor 75 Jahren, wurde das Grundgesetz in Bonn unterzeichnet und fei- erlich verkündet. Es ist ein Ereignis, das zugleich die Ge- burtsstunde der Bundesrepublik markiert. Und auch an ein weiteres Ju- biläum soll an diesem Tag in Berlin gedacht werden: 35 Jah- re friedliche Re- volution in der DDR. Bundespräsi- dent Frank-Wal- ter Steinmeier würdigte in seiner Rede das Grundgesetz als „großartiges Geschenk“ für Deutschland nach der nationalsozialistischen Gewalt- herrschaft und bezeichnete es als ein Mo- dell „für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft der Verschiedenen“. Steinmeier betonte, dass die Verfassung da- her nicht nur geschätzt, sondern auch ge- feiert werden müsse. Denn: „Diese Verfas- sung gehört zu dem Besten, was Deutsch- land hervorgebracht hat.“ Ursprünglich als provisorische Verfassung für die Bundesrepublik gedacht, sollte das Grundgesetz nur bis zur Wiedervereini- gung der beiden deutschen Staaten gelten. Zuvor hatten die drei westlichen Sieger- mächte des Zweiten Weltkrieges, USA, Frankreich und Großbritannien, deutschen Politikerinnen und Politikern in den west- lichen Besatzungszonen den Auftrag gege- ben, eine politische Ordnung zu erarbei- ten, die ihre Lehren aus der Weimarer-Re- publik und den Verbrechen des Nazi-Re- gimes zieht. Die heute weitgehend auf re- präsentative Aufgaben beschränkte Stel- lung des Bundespräsidenten ist eine der Lehren, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus dem Scheitern von Wei- mar zogen. Zu diesen Lehren gehört beispielsweise auch, dass ein Bundeskanzler nur per „konstruktivem Misstrauensvotum“ im Bundestag durch die Wahl eines Amtsnach- folgers gestürzt werden kann. Für das Selbstverständnis der Bundesrepublik prä- gend wie verpflichtend aber ist vor allem als Antwort auf die vorherigen NS-Gräuel Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 des Grundgeset- zes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In seiner halbstündigen erinnerte Rede da- Steinmeier ran, dass das Frei- heitsversprechen des Grundgeset- zes erst mit der Wiedervereini- etwa und gung für alle Deutschen erfüllt wurde. Er hob hervor, dass daher sowohl 1949 als auch der Mauerfall 1989 entscheidende Wegmarken in der Geschichte der Bundesre- publik seien. Heute sei das Land zusam- mengewachsen das Grundgesetz schließlich die Verfassung aller Deutschen: feiern zu- „Wir sammen, weil wir zusammengehö- ren“, so Steinmei- er. Das Grundge- setz habe sich als gesamtdeutsche Verfassung liert. Dabei es nach der Friedli- chen Revolution in der DDR 1989 Überlegungen, das Grund- gesetz durch eine gesamtdeutsche Verfassung zu ersetzen, so wie es ursprünglich in Artikel 146 vorgesehen war. Am Ende entschied M / o t o h P r u N / a p © g r u b e n n o R etab- gab . r u t n e g A - s t d / a p d / a p @ ranghöchsten Politikerinnen und Politiker des Landes und die Spitzen der fünf Verfas- sungsorgane: Neben dem Bundespräsiden- ten sind dies die Präsidentinnen und Präsi- denten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht – Bärbel Bas (SPD), Manuela Schwesig (SPD) und Ste- phan Harbarth – sowie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Unter den rund 1.100 Gästen waren auch die früheren Bundeskanzler Gerhard Schrö- der (SPD) und Angela Merkel (CDU) so- wie Altbundespräsident Joachim Gauck. Auch Spitzen aus Gesellschaft, Kultur und Kirche waren angereist. Darunter beispiels- weise die 102-jährige Ho- locaust-Überle- bende Margot Friedländer. Um Sicherheit die der Veranstal- tung zu gewähr- leisten, waren rund 1.000 Poli- und zistinnen Polizisten im Einsatz. Musikalisch untermalt wurde der Festakt von den Berliner Philharmonikern unter Dirigent Yannick Nézet-Séguin. Die Sängerinnen und Schauspielerinnen Katha- rina Thalbach und Andreja Schneider prä- sentierten ein Medley deutscher Lieder aus den Jahren 1949 bis 1989, das große Freu- de bei den Gäs- ten auslöste. Ih- re musikalische Zeitreise reichte unter anderem von „Über den Wolken“ von Reinhard Mey über „Du hast Farbfilm den vergessen“ von Nina Hagen bis hin zu „Wenn ein Mensch lebt“ von den Puhdys. Für eine deutsche Verfassung sind die 75 Jahre, die das Grundgesetz nun in Kraft ist, in der jüngeren Geschichte eine „Unterschätzt nicht die Religionsfreiheit! Sie ist nicht nur für Religiöse wichtig, sondern war die Vorläuferin vieler anderer Freiheiten.“ Maximilian Mordhorst (FDP) (nicht lange Zeit. Die Paulskirchen-Verfassung von 1849 war, was ihre Gültigkeitgsdauer anbetrifft ihre Wirkmächtigkeit), quasi eine Totgeburt, trat sie doch nach der Ablehnung der Preußens König Friedrich Wilhelm IV. angebotenen Kaiserkrone nie in Kraft. Bismarcks Verfassung des Kaiser- reichs von 1871 fand nach rund 47 Jahren mit der Reform vom Oktober 1918 noch zur Umwandlung der konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch regier- te, war aber mit der Ausrufung der Repu- blik zwölf Tage später Vergangenheit. Die Weimarer Verfassung von 1919 wurde mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalso- von zialisten 1933 bereits nach 14 Jahren Geschichte; Hit- lers Terrorherr- schaft erst nach zwölf Jahren. Seit der Verkün- dung des Grundgesetzes vor 75 Jahren hat sich viel ge- tan: Statt der ursprünglich 146 Artikel um- fasst es mittlerweile 203 Artikel. Der Geset- zestext gehört nun schon zu den älteren geltenden Verfassungen der Welt und dien- te als Vorbild für Verfassung anderer demo- kratischer Staaten. Dennoch wird immer wieder diskutiert, welche Änderungen oder Anpassungen das Grundgesetz hinsichtlich der sich verändernden Weltlage und neuen Herausforderungen benötigt. cha/sto T Die Feierstunde am vergangenen Don- nerstag ist erst der Auftakt zu einem drei- tägigen Demokratiefest, das vom 24. Bis zum 26. Mai in Bonn und Berlin stattfin- det. Den Besucherinnen und Besuchern wird ein abwechslungsreiches Programm geboten. Zu dem Fest sind alle Bürgerin- nen und Bürger eingeladen. Weitere Infos zum Programm gibt es im Internet unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/ themen/75-jahre-grundgesetz/programm- demokratiefest ... Artikel 20, Absatz 2: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Albrecht Glaser (AfD)

Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 75 JAHRE GRUNDGESETZ 13 »Ein Glücksfall für Deutschland« Grußwort der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas Wir feiern in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz und 75 Jahre Deutscher Bun- destag. Viele Menschen be- neiden uns um unsere Demo- kratie, unsere Freiheiten und unsere Grundrechte, die in unserem Alltag eine große Rolle spielen – ohne dass es uns jederzeit bewusst ist. die Präambel 75 Jahre Grundgesetz sind auch 75 Jahre Bekenntnis zu Europa. Schon 1949 er- klärte des Grundgesetzes Deutschlands Willen, Teil eines „vereinten Europas“ zu sein. 1992 ist die „Verwirklichung eines verein- ten Europas“ ausdrücklich zum Staatsziel erklärt wor- den. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas © Deutscher Bundestag/Inga Haar schaft von 27 Demokratien. Sie sichert unseren Wohl- stand. Sie ermöglicht uns, im globalen Wettbewerb voran- zugehen – und für Demokra- tie und Freiheit in der Welt einzutreten. Nach zwei Weltkriegen war die europäische Einigung für Frieden. ein Garant Der russische Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Angriff auf die europäische Friedens- ordnung. Wir müssen in Europa zusammenstehen, mit aller Kraft die Ukraine weiter unterstützen und sie auf dem Weg in die Europäischen Uni- on begleiten. Es geht um un- In diesem Jahr feiern wir außerdem 35 Jahre Mauer- fall und den 20. Jahrestag der großen EU-Osterweite- rung. Europa konnte nach jahrzehntelanger Teilung endlich zusammenwachsen. Heute ist die Europäische Union eine starke Gemein- Anzeige 75 Jahre Demokratie lebendig sere Freiheit, Demokratie und Sicherheit in Europa. Die Demokratie ist ein Grundpfeiler der Europäi- schen Union. Die Europa- wahlen sind die größten transnationalen Wahlen der Welt. Am 9. Juni 2024 sind auch Sie aufgerufen, Ihre Ab- geordneten im Europäischen Parlament zu wählen. Ma- chen Sie von Ihrem Wahl- recht Gebrauch – und be- stimmen Sie mit, wie sich die Europäische Union in den kommenden fünf Jahren ent- wickelt. ist Europa und das Grundge- setz: Beides gehört eng zu- sammen. ein Beides Glücksfall für Deutschland, aber keine Selbstverständlich- keit. Deshalb macht es Mut, dass so viele Menschen für un- sere Demokratie einstehen. Das wollen wir feiern – bei einem Fest der Demokra- tie in Berlin und in Bonn. Sie sind herzlich eingela- den! Besuchen Sie den Deutschen Bundestag zum Fest der Demokratie in Berlin und Bonn. Es erwarten Sie viele informative und unterhaltsame Programm-Highlights! Programm in Berlin von Freitag, den 24. Mai 2024, bis Sonntag, den 26. Mai 2024, im Reichstagsgebäude und Paul-Löbe-Haus Dialog- und Gesprächsformate ■ 25.5., 13.00-13.45 Uhr im Forum Plenarsaal, Paul-Löbe-Haus Gespräch der Bundestagspräsidentin zum Thema „Demokratieförderung in Deutschland“ ■ 25.5., 15:30-16:15 Paul-Löbe-Allee Gespräch der Bundestagspräsidentin im „Dialogforum“ zum Thema „75 Jahre Demokratie lebendig“ ■ 24.5., 19.00-19.45 Uhr im Forum Plenarsaal, Paul-Löbe-Haus Gespräch des Polizeibeauftragten des Bundes beim Deutschen Bundestag Uli Grötsch „Der Polizeibeauftragte – Hilfsorgan und Helf-Organ“ ■ 25.5., 11.00-11.45 Uhr im Forum Plenarsaal, Paul-Löbe-Haus Zeitzeugengespräch der SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag Evelyn Zupke ■ 25.5., 12.00-12.45 Uhr im Forum Plenarsaal, Paul-Löbe-Haus Gespräch des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz ■ 26.5., 15.00-16.00 Uhr im Forum Plenarsaal, Paul-Löbe-Haus Podiumsgespräch „Ostdeutsche Perspektiven auf 75 Jahre Grundgesetz“ der Vizepräsidentin Petra Pau mit Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Dr. Sabine Bergmann-Pohl und Marianne Birthler Außerdem erwarten Sie weitere interessante Highlights: ■ ab 23.5., 22.00 Uhr Allabendliche Lichtprojektion „Menschen und Parlament – 75 Jahre. Demokratie lebendig “ ■ 24.-26.5. in der Präsenzbibliothek, Reichstagsgebäude Ausstellung der Urschrift des Grundgesetzes ■ „Theatersport Berlin“, Improvisationstheater im Forum Plenarsaal, Paul-Löbe-Haus ■ Rollenspiel Forum Plenarsaal - Erleben Sie live und unterhaltsam, wie Ihr Parlament funktioniert! Paul-Löbe-Haus ■ Ausstellung „... denen mitzuwirken versagt war.“ Ostdeutsche Demokraten in der frühen Nachkriegszeit, Reichstagsgebäude ■ Ausstellung „Odyssee einer Urkunde. Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849“, Paul-Löbe-Haus Das gesamte Programm finden Sie unter: https://www.bundestag.de/demokratiefest Programm in Bonn am Samstag, dem 25. Mai 2024, im ehemaligen Plenargebäude stündlich zwischen 11.00 und 14.00 Uhr sowie um 15.00 und 16.00 Uhr Rollenspiel Forum Plenarsaal - Erleben Sie live und unterhaltsam, wie Ihr Parlament funktioniert! direkt im Anschluss um 16.40 Uhr moderiertes Questions & Answers mit der Leiterin der Abteilung Parlament und Abgeordnete, im Plenarsaal 13.00/15.00 Uhr im Raum Berlin „Der nächste Redner ist eine Dame“ - Lesung mit Helene Bukowski im Raum Berlin 13.20 Uhr Frackübergabe an das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Restaurantbereich 14 Uhr im Plenarsaal „Information als Waffe - Pressefreiheit in Zeiten von Krieg und Diktatur“ interaktives Talkformat mit der ukrainischen Exil-Journalistin Lina Safronova und Kai Pfundt vom Bonner Generalanzeiger im Rahmen der Kampagne „Das Jahr der Nachricht“ der Initiative #usethenews im Plenarsaal 14.00 Uhr im Raum Berlin Vorstellung „So arbeitet der Deutsche Bundestag“ - im Gespräch mit der Leiterin der Abteilung Parlament und Abgeordnete, Dr. Ruth Lang, im Raum Berlin ab 17 Uhr im Plenarsaal Filmvorführung „Menschen und Parlament 75 Jahre - Demokratie lebendig!“ im Plenarsaal Besuchen Sie auch die Lobby, wo Sie zahlreiche weitere Highlights erwarten: ■ Ausstellung „Das Grundgesetz und ich“ – Ergebnisse eines Workshops mit Schülerinnen und Schülern in Kooperation mit dem Haus der Geschichte ■ Die Parlamentarischen Dienste stellen sich vor und beantworten Ihre Fragen ■ Die Stenografinnen und Stenografen des Deutschen Bundestages stellen ihre Arbeit vor und stenografieren Ihren Namen auf eine original Bundestags-Tasche. ■ Entdecken Sie die originalen Einbauten aus der Zeit der Bonner Republik und lauschen Sie historischen Plenardebatten in den Telefonzellen ■ Testen Sie Ihr Wissen beim Bundestagsquiz oder lauschen Sie der Live-Musik im Restaurant. ■ Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist als Ansprechpartner für Ihre Erinnerungen an 75 Jahre Grundgesetz und Parlamentarismus vor Ort.

14 KEHRSEITE AUFGEKEHRT Freude schöner Wahl-O-Mat ORTSTERMIN: PARLAMENTARIUM IN BRÜSSEL Das Parlament - Nr. 22-23 - 25. Mai 2024 Spaziergang Der Wahl-O-Mat gehört bei uns zu den lieb gewonne- nen Traditionen, wie der kurze zum Wahllokal in der nächsten Schule, vor- bei an aufgeschlossenen Drogendea- lern, die vermutlich auch wahlberech- tigt sind. Der Wahl-O-Mat ist eigentlich idiotensicher, was nicht heißt, dass man das Ergebnis verstehen, nachvoll- ziehen oder gar akzeptieren muss. Schließlich soll das Programm nur eine Entscheidungshilfe sein. Wer schon einmal im Supermarkt vor dem Regal mit Baby-Windeln stand, weiß, wie schwierig solche Entscheidungen sein können. Viele Jugendliche ab 16 wählen in die- sem Jahr zum ersten Mal und dann gleich bei einer Europawahl, der ganz große „Move“ also. Ein gesprächiger Nachbarjunge wollte neulich wissen, wie der Wahl-O-Mat in seinem Fall zu deuten sei („what the f*ck“). Er hatte sich nämlich eigentlich für die „Letzte Generation“ entschieden („klar Dig- ga“), der Wahl-O-Mat zeigte dann aber mit einer ganz anderen Partei die größ- te Übereinstimmung. Den Hinweis, dass der Weltuntergang vor 40 Jahren ohnehin schon genauso bedrohlich war wie heute, nahm er nachsichtig lä- chelnd zur Kenntnis („lol flexer“). Alte sind eben „goofy“, da kann man nichts machen. Und jetzt? Wählen ist Abenteuer, man weiß ja nie, was am Ende dabei heraus- kommt, aber Spannung ist garantiert. Vielleicht sogar Freude: Darüber, dass das Friedensprojekt Europa auch in der nächsten Generation weiter blüht, „voll Rizz“ eben. Dieser Tage marschierten Grundschulkinder im Pulk am Bundes- tag vorbei und sangen lautstark, fröh- lich und textsicher: „Freude schöner Götterfunken“. Der ol- le Schiller hätte das sicher „Yolo“ ge- funden (you only live once). pk T überraschend VOR 35 JAHREN... »Europa muss ungeteilt sein« 31.5.1989: George Bush fordert Mau- erfall. In den USA war man lange miss- trauisch, ob sich die Neuerungen, die Mi- chail Gorbatschow seinem Land verordne- te, Bestand haben würden. Der Generalse- kretär des Zentralkomitees der Kommu- nistischen Partei der Sowjetunion wollte i r e e m e k a r B m T | i b e w a p d / a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © US-Präsident Bush bei seinem Deutsch- land-Besuch in der Mainzer Rheingoldhalle. nicht nur „Glasnost und Perestroika“, er wünschte sich auch ein „gemeinsames eu- ropäisches Haus mit Anerkennung von demokratischen Werten“. Doch auch der frisch gewählte US-Präsident George Bush hatte ambitionierte Ziele. Schon kurz nach seiner Wahl Ende 1988 hatte er sei- nem Beraterstab verkündet: „Wir sollten große Träume träumen.“ Wie groß Bushs Träume waren, wurde in der Bundesrepu- blik am 31. Mai 1989 klar. Bei seinem ersten Deutschland-Besuch reiste der neue Präsident nach Gesprächen mit Kanzler Helmut Kohl und Bundesprä- sident Richard von Weizsäcker (beide CDU) von Bonn nach Mainz. In der Rheingoldhalle hielt Bush eine Grund- satzrede, in der er die eindeutige Position der USA erklärte: „Die Welt hat lange ge- nug gewartet. Die Zeit ist reif. Europa muss frei und ungeteilt sein.“ Der „Eiserne Vorhang“ müsse fallen, wie es in Ungarn schon der Fall war, und „Berlin muss die nächste Station sein“, so Bush. Als „Part- ner in einer Führungsrolle“ sollten die USA und die Bundesrepublik daran arbei- ten, dass die Grenzen überall in Europa fallen. „Wir streben die Selbstbestimmung für ganz Deutschland und alle Länder Ost- europas an“, rief Bush. Die Berliner Mauer nannte er ein „Monument für das Schei- tern des Kommunismus“. Sie trenne Nach- barn und Brüder, „sie muss fallen“. Quasi als Replik auf Gorbatschows Worte beton- te er: „Es kann kein gemeinsames europäi- sches Haus geben, wenn sich nicht all sei- ne Bewohner von Raum zu Raum frei be- wegen können.“ Benjamin Stahl T Entdeckungsreise durch Europa: Das Parlamentarium in Brüssel ist das größte Besucherzentrum eines europäischen Parlaments und bringt Besucherinnen und Besuchern den Konti- nent auf interaktive Weise näher. © picture-alliance/dpa/Olivier Hoslet Europa erleben Im Europaviertel in Brüssel stehen alle Zeichen auf Wahl: Das Altiero-Spinelli-Gebäude des Europäischen Parla- ments ist mit blauen und weißen Bannern geschmückt. Auf ihnen prangen die Worte „European Election“ (Euro- pawahl) und „Use your Vote“ (Nutze deine Stimme). „Nutze deine Stimme. Sonst entscheiden andere für dich“ ist das diesjährige Motto der Europawahl, die je nach Mit- gliedsstaat zwischen dem 6. und 9. Juni stattfindet. Während Touristinnen und Touristen vor dem Parla- mentsgebäude posieren und Fotos machen, beobachten einige Obdachlose das rege Treiben. Auch eine Schulklas- se aus Österreich bahnt sich ihren Weg durch die Men- schenmenge – sie sind auf dem Weg ins Parlamentarium, dem Besucherzentrum des Europäischen Parlaments. Seit seiner Eröffnung im Jahr 2011 bietet das Parlamenta- rium Besucherinnen und Besuchern eine informative Rei- se durch die Europäische Union. Es liefert Informationen zur europäischen Geschichte, den Organen der EU in Brüssel, Straßburg und Luxemburg sowie den derzeit 705 Abgeordneten und dem Wirken der EU in allen 24 Amts- sprachen. In der Ausstellung werden in regelmäßigen Abständen be- rühmte Europäerinnen und Europäer vorgestellt – darun- ter Victor Hugo, Maria Callas oder Marie Curie. Es ist das in ganz größte Besucherzentrum eines Parlaments Europa. Aufgelockert wird die Informationsflut durch interaktive Tafeln. Sie ermöglichen es den Besucherinnen und Besu- chern, sich aktiv mit europäischen Themen auseinander- zusetzen. So können die Gäste der Ausstellung beispiels- weise auf einer begehbaren Landkarte mehr über die Viel- falt des europäischen Kontinents erfahren. Besonders anschaulich wird in kurzen Videos gezeigt, wie die EU das tägliche Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger beeinflusst. So berichtet zum Beispiel Carla Martins aus Portugal davon, wie sie mit Hilfe des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung eine neue Arbeit fand. Wie in dem Video erklärt wird, unterstützt der Glo- balisierungs-Fonds Menschen dabei, einen neuen Arbeits- platz zu finden, wenn eine Fabrik an einen Standort au- ßerhalb der EU verlagert wird. Jährlich stellt die EU dafür etwa 500 Millionen Euro zur Verfügung. In einem anderen Video erzählt der Barbesitzer Hristoslav Galileev aus Rumänien, wie sich die EU-Vorschrift zum Rauchverbot an öffentlichen Orten auf sein Lokal aus- wirkt. So könne er es zwar verstehen, dass man sich auf globaler Ebene Gedanken zur Gesundheit der Bürgerin- nen und Bürger mache – dennoch habe die Vorgabe an- fangs negative Auswirkungen auf die Zahl der Gäste in seiner Bar gehabt. Auch den Jugendlichen aus der österreichischen Schul- klasse gefallen die interaktiven Inhalte in der Ausstellung am besten. Und natürlich, dass man so viele Fotos ma- chen könne – so erzählen es Zofia, Charlie und Rika. Sie verbringen die meiste Zeit an einer interaktiven Karte, auf der sie ihre Wünsche für Europa hinterlassen können. Zo- fia schreibt, dass sie sich mehr Gleichberechtigung zwi- schen Männern und Frauen wünscht. Charlie möchte, dass jede Person einfach sie selbst sein kann. Rikas Wunsch ist es, dass mehr gegen Obdachlosigkeit getan wird und Menschen, die auf der Straße leben, ein Zuhau- se, Arbeit und Hilfe finden. Auch die Europawahl ist bei den drei Jugendlichen The- ma. Sie sind alle 16 Jahre alt und dürfen nach österrei- chischem Wahlrecht im Juni ihre Stimme abgeben. Doch Rika ist sich unsicher, ob sie tatsächlich wählen kann. Sie ist erst vor zwei Jahren von Ungarn nach Österreich gezo- gen und hat die ungarische Staatsbürgerschaft – und dort liegt das Wahlalter bei 18 Jahren. Fragt man Rika, was sie mit Europa verbindet, sagt sie „Freiheit und kulturelle Vielfalt“. Am Ende ergänzt sie noch: „Für mich ist Europa Zuhause“. Carolin Hasse T LESERPOST Zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes: Mein Bollwerk gegen Hass und Hetz, ist unser deutsches Grundgesetz. Es stärkt die Schwachen, schützt die Star- ken, verbindet weltweit Friedensmarken. Das Meisterwerk von Bürgerrechten, gibt Halt am Tag und schlimmen Nächten, es schützt vor Übergriffen und Gewalt, behütet Würde, lehrt Zusammenhalt. Ein Hoch auf unser Grundgesetz, du Festung gegen Angstgeschwätz. Wir wollen Freiheit, Recht und Mensch- lichkeit, und steh’n zu dir, in Einigkeit. Fritz Goschenhofer, Neuburg a.d.Donau Zur Renten-, Kranken- und Pflegeversi- cherung: Die Beiträge für Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden in den nächsten Jahren enorm steigen. Statt mit Reformen den Kostenanstieg zu senken, passiert ge- nau das Gegenteil. Minister Lauterbach und Minister Heil sorgen kontraproduktiv nochmal ordentlich dafür, die Geldbeutel der Beschäftigten und Firmenchefs zu schröpfen! Unfair und brandgefährlich für unseren Sozialstaat! Es liegt doch auf der Hand: Stabile Renten, gute Pflege- und Krankenversicherung gibt es nicht zum Nulltarif und nur wenn fleißige Arbeitneh- mer dies auch finanzieren. Belohnt „das Fleißigsein“, dass die Beschäftigten in der Tat am Monatsende genügend Geld (Netto) auf ihrem Konto haben. Durch die Erhö- hung der Altersbezüge rutschen mehr als 100.000 Menschen in die Steuerpflicht. Fa- zit: So tut die Regierung derzeit alles, um SEITENBLICKE den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu minimieren. Ursula Reichert, Hanau vom 24.2.2024, Zur Ausgabe 9-11 „Der Blockierer“ auf Seite 10: „Es gibt viele Möglichkeiten, Karriere zu machen, aber die sicherste ist noch immer, in der richtigen Familie geboren zu sein“ (Zitat von Donald Trump). Der republika- nische Realist Donald Trump bekommt sei- ne zweite Chance und diese dürfte er ver- mutlich eiskalt sich nutzen. Unter Trump ging es auf dem Erdenball etwas friedlicher zu, trotz seiner oft sehr aggressi- ven Wortschwalle und Wortschöpfungen. für Klaus P. Jaworek, Büchenbach PERSONALIA >Verena Wohlleben Bundestagsabgeordnete 1990-2005, SPD Am 8. Juni wird Verena Wohlleben 80 Jah- re alt. Die Bürokauffrau aus Lauf an der Pegnitz trat 1969 der SPD bei und war dort von 1978 bis 1996 Stadträtin. Wohl- leben engagierte sich im Bundestag im Verteidigungsausschuss. Von 1995 bis 2005 gehörte sie der Parlamentarischen Versammlung der Nato an. Für ihre Ver- dienste wurde Wohlleben 2007 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. >Dieter Haack Bundestagsabgeordneter 1969-1990, SPD Am 9. Juni vollendet Dieter Haack sein 90. Lebensjahr. Der Jurist aus Erlangen, SPD-Mitglied seit 1961 und von 1975 bis 1995 stellvertretender Landesvorsitzender in Bayern, wirkte im Bundestag im Aus- schuss für innerdeutsche Beziehungen mit und gehörte von 1982 bis 1990 dem Vor- stand seiner Bundestagsfraktion an. Von 1972 bis 1978 war er Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesbauminister und stand von 1978 bis 1982 selbst an In seiner der Spitze des Ministeriums. anderem das Amtszeit wurde Städtebauförderungsgesetz verabschie- det. Von 1990 bis 1997 gehörte Haack bmh T dem Bayerischen Senat an. unter Haben Sie Anregungen, Fragen oder Kritik? Schreiben Sie uns: Das Parlament Platz der Republik 1 11011 Berlin redaktion.das-parlament@bundestag.de Leserbriefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Die nächste Ausgabe von „Das Parlament“ erscheint am 8. Juni 2024. PERSONALIA >Uta Titze-Stecher † Bundestagsabgeordnete 1990-2002, SPD Am 13. Mai starb Uta Titze-Stecher im Alter von 81 Jahren. Die Sonderschullehrerin aus Eichenau/Kreis Fürstenfeldbruck wurde 1971 SPD-Mitglied und gehörte von 1992 bis 1996 dem bayerischen Landesvorstand an. Titze-Stecher betätigte sich im Bundes- tag im Haushaltsausschuss und war von 1998 bis 2002 Vorsitzende des Rechnungs- prüfungsausschusses. >Bodo Seidenthal † Bundestagsabgeordneter 1987-2002, SPD Am 10. Mai starb Bodo Seidenthal im Alter von 76 Jahren. Der Ingenieur aus Königslu*t- ter trat 1967 der SPD bei und gehörte dem Vorstand des Bezirks Braunschweig an. Seit 1974 war er Stadtrat in Königslu*tter. Sei- denthal engagierte sich im Forschungsaus- schuss. >Bernd Schmidbauer Bundestagsabgeordneter 1983-2009, CDU Am 29. Mai vollendet Bernd Schmidbauer sein 85. Lebensjahr. Der Studiendirektor aus Eppelheim/Rhein-Neckar-Kreis war von 1981 bis 2003 Vorsitzender des dortigen CDU-Kreisverbands und gehörte von 1971 bis 1989 dem gleichnamigen Kreistag an. Schmidbauer, des Wahlkreises Rhein-Neckar, amtierte von 1991 bis 1998 als Staatsminister beim Bun- deskanzler und als Koordinator der Nach- richtendienste. stets Direktkandidat >Herbert Behrens Bundestagsabgeordneter 2009-2017, Die Linke Am 30. Mai wird Herbert Behrens 70 Jahre alt. Der Gewerkschaftssekretär aus Oster- holz-Scharmbeck, seit 2007 Mitglied der „Linken“, stand von 2015 bis 2017 an der Spitze der niedersächsischen Landespartei. Behrens wirkte im Verkehrs- sowie im Rech- nungsprüfungsausschuss mit. 2016 wurde er Vorsitzender des Untersuchungsaus- schusses zum „Diesel-Abgasskandal“. >Hans-Werner Senfft Bundestagsabgeordneter 1985-1987, Bündnis 90/Die Grünen Hans-Werner Senfft wird am 3. Juni 70 Jah- re alt. Der Reisebürokaufmann aus Waren- dorf, der zum Gründerkreis der „Grünen“ zählt, war Mitarbeiter beim Bundesverband „Bürgerinitiativen Umweltschutz“. Senfft wirkte im Bundestag im Verkehrsausschuss mit. >Christiane Ratjen-Damerau Bundestagsabgeordnete 2010-2013, FDP Am 4. Juni begeht Christiane Ratjen-Dame- rau ihren 70. Geburtstag. Die Landwirt- schaftsdirektorin aus Oldenburg trat 1989 der FDP bei und amtierte von 2010 bis 2012 als Generalsekretärin ihrer Partei in Niedersachsen. Ratjen-Damerau wirkte im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung mit. >Rudolf Henke Bundestagsabgeordneter 2009-2021, CDU Rudolf Henke wird am 5. Juni 70 Jahre alt. Der Arzt aus Aachen schloss sich 1992 der CDU an und saß seit 1999 im NRW-Landes- vorstand. Von 1995 bis 2009 gehörte er dem Landtag in Düsseldorf an. Im Bundes- tag betätigte sich Henke, stets Direktkandi- dat des Wahlkreises Aachen I, im Gesund- heitsausschuss, dessen stellvertretenden Vorsitz er von 2013 bis 2017 innehatte. Von 2007 bis 2019 stand er an der Spitze des „Marburger Bundes“. >Robert Hochbaum Bundestagsabgeordneter 2002-2017, CDU Am 5. Juni begeht Robert Hochbaum seinen 70. Geburtstag. Der Diplom-Verwaltungs- wirt aus Falkenstein im Vogtland schloss sich 1983 der CDU an. Der Direktkandidat des Wahlkreises Vogtland-Plauen engagier- te sich im Wirtschafts- sowie im Verteidi- gungsausschuss und war von 2003 bis 2017 Mitglied der Parlamentarischen Versamm- lung der Nato. >Rainer Ortleb Bundestagsabgeordneter 1990-1998, FDP Rainer Ortleb wird am 5. Juni 80 Jahre alt. Der Universitätsprofessor aus Rostock trat 1968 der LDP in der DDR bei und amtierte von 1991 bis 1994 als FDP-Landesvorsitzen- der in Mecklenburg-Vorpommern. 1990 ge- hörte er der ersten frei gewählten Volks- kammer der DDR an. Als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft von 1991 bis 1994 setzte Ortlieb unter anderem mit dem Hochschulerneuerungsprogramm Akzente. >Thomas Sattelberger Bundestagsabgeordneter 2017-2022, FDP Thomas Sattelberger vollendet am 5. Juni sein 75. Lebensjahr. Der Diplom-Betriebs- wirt aus München, FDP-Mitglied seit 2015, war forschungspolitischer Sprecher seiner Fraktion und betätigte sich im Bildungsaus- schuss. 2021/22 amtierte er als Parlamenta- rischer Staatssekretär bei der Bundesminis- bmh T terin für Bildung und Forschung.

Informationen in Leichter Sprache Ausgabe Nr. 253 Beilage für: l e i c h t e r k l ä r t ! Europa-Wahl Ein neues Parlament für die EU Nächsten Monat ist eine Wahl in der Europäischen Union. Genauer: Die Wahl zum Europäischen Parlament. Im folgenden Text steht mehr dazu. Folgende Fragen werden zum Beispiel beantwortet: • Was ist die Europäische Union? • Was ist das Europäische Parlament? • Worum genau geht es bei der Wahl? Was ist die Europäische Union? Die Europäische Union ist eine Gruppe aus mehreren Ländern. Genauer: Aus 27 europäischen Ländern. Die Länder arbeiten zusammen. Denn sie wollen in Europa eine bessere Politik machen. Ihre Politik soll nicht nur gut für die einzelnen Länder sein. Sie soll ganz Europa beachten. Die Abkürzung für Europäische Union ist: EU. Auch Deutschland ist Mitglied in der EU. Was ist das Europäische Parlament? Verschiedene politische Gruppen leiten die EU. Eine dieser Gruppen hat den Namen: Europäisches Parlament. Im Europäischen Parlament sitzen über 700 Politiker. Sie kommen aus allen Ländern der EU. Jedes EU-Land schickt eine bestimmte Anzahl an Politikern ins Parlament. Diese Politiker werden von den Bürgern im jeweiligen EU-Land gewählt. Das Europäische Parlament trifft sich in Straßburg. Das ist eine Stadt in Frankreich. Viele Treffen finden auch in der Stadt Brüssel in Belgien statt. Ein weiterer Arbeits-Ort ist Luxemburg.

Europa-Wahl • Ein neues Parlament für die EU Was macht das Europäische Parlament? In der Europäischen Union leben ungefähr 450 Millionen Menschen. Die Politiker im Europäischen Parlament vertreten diese Bürger. Sie setzen sich für ihre Interessen ein. Dafür erledigt das Parlament verschiedene Aufgaben. Hier ein paar Beispiele. Gesetze machen Das Europäische Parlament bestimmt über Gesetze mit. Und zwar Gesetze, die dann in der gesamten EU gelten. EU-Kommission bestimmen Eine weitere politische Gruppe in der EU heißt: Europäische Kommission. Sie ist so etwas wie die Regierung der EU. Sie macht zum Beispiel Folgendes: • Sie schlägt neue Gesetze vor. • Sie kümmert sich darum, dass Gesetze ausgeführt werden. • Sie macht Vorschläge, wofür Geld ausgegeben werden soll. • Sie passt auf, dass die EU-Länder sich an Abmachungen halten. Das Europäische Parlament bestimmt über die Mitglieder der Kommission mit. Außerdem wählt es den Chef der Kommission. Und es kann die Kommission auch auflösen. Bei Ausgaben mitbestimmen Das Europäische Parlament bestimmt mit, wofür die EU Geld ausgibt. Die Europäische Kommission macht dazu einen Vorschlag. Das Europäische Parlament kann diesem Vorschlag dann zustimmen. Es kann ihn auch ablehnen. Dann muss die Kommission einen neuen Vorschlag machen. Überwachung der EU Das Europäische Parlament überwacht, ob in der EU gute Arbeit geleistet wird. Es schaut zum Beispiel, ob Geld sinnvoll ausgegeben wird. Es schaut auch, ob sich die EU-Länder an EU-Gesetze halten. Außerdem überwacht das Europäische Parlament die Arbeit von verschiedenen anderen politischen Gruppen in der EU. Zum Beispiel die Arbeit der Europäischen Kommission. Wahl des Europäischen Parlaments Das Europäische Parlament ist die einzige politische Gruppe der EU, die direkt von den Bürgern gewählt wird. Die Wahl findet alle 5 Jahre statt. Die erste Wahl war im Jahr 1979. Die letzte war im Jahr 2019. Die nächste Wahl findet in der ganzen EU vom 6. bis zum 9. Juni 2024 statt. In unterschiedlichen Ländern ist die Wahl an unterschiedlichen Tagen. In Deutschland ist sie am 9. Juni. Das ist ein Sonntag. Regeln für die Wahl Die Wahl zum Europäischen Parlament findet in allen EU-Ländern statt.

Jedes Land kann selbst entscheiden, wie genau die Wahl in diesem Land ablaufen soll. Denn jedes Land macht Wahlen nach ein klein wenig anderen Regeln. Für die Wahl gibt es allerdings auch einige Regeln, an die sich alle EU- Länder halten müssen. Wichtigste Regeln Besonders wichtig sind zum Beispiel die folgenden Regeln: 1) Für alle Wähler in einem Land gelten die gleichen Wahl-Regeln. 2) Jeder Wähler darf selbst entscheiden, wen er wählen möchte. 3) Jeder Wähler in einem Land hat gleich viele Stimmen. 4) Man muss niemandem verraten, wen man gewählt hat. Wahl-Alter Beim Wahl-Alter muss man 2 Dinge unterscheiden. 1) Ab wann darf jemand wählen? 2) Ab wann darf sich jemand wählen lassen? Also als Bewerber bei der Wahl antreten? 1) Ab wann darf man wählen? In den meisten EU-Ländern darf man ab 18 Jahren wählen. Bisher war das auch in Deutschland so. Für die Wahl in diesem Jahr wurde das aber geändert. Dieses Mal darf man schon mit 16 Jahren wählen gehen. Auch in folgenden Ländern darf man schon mit 16 wählen: Belgien, Malta, Österreich. In Griechenland muss man 17 Jahre alt sein. 2) Ab wann darf man sich wählen lassen? Ab wann man sich bei der Wahl wählen lassen darf, ist von Land zu Land unterschiedlich. In ungefähr der Hälfte der EU-Länder darf man ab 18 Jahren bei der Wahl antreten. So auch in Deutschland. In mehreren Ländern darf man mit 21 bei der Wahl antreten. In Rumänien erst mit 23 Jahren. Und in Italien und Griechenland erst mit 25 Jahren. Wie viele Politiker schickt ein Land? Jedes Land schickt Politiker ins Europäische Parlament. Und zwar mindestens 6 Politiker. Und höchstens 96 Politiker. Wie viele Politiker ein Land genau schickt, hängt von seiner Einwohner- Zahl ab. Je mehr Einwohner ein Land hat, desto mehr Politiker darf es schicken. In keinem Land der Europäischen Union leben so viele Menschen wie in Deutschland. Darum schickt Deutschland die meisten Politiker ins Europäische Parlament. Also 96 Personen. Wen wählt man? Bei der Wahl in Deutschland wählt man nicht direkt Personen. Man wählt Parteien. Also zum Beispiel die Parteien SPD, die Grünen, die FDP, die CDU, die CSU, die AfD, die Linke oder das BSW. Oder auch andere Parteien. Das funktioniert so:

Europa-Wahl • Ein neues Parlament für die EU Jede Partei stellt eine Liste auf. Auf dieser Liste stehen die Bewerber. Bei der Wahl darf jeder Wähler eine Liste ankreuzen. Damit hat er dieser Liste und damit dieser Partei seine Stimme gegeben. Am Ende wird geschaut, wie viele Stimmen jede Partei bekommen hat. Davon hängt ab, wie viele Politiker diese Partei ins Europäische Parlament schicken darf. Je mehr Stimmen, desto mehr Politiker darf sie schicken. Jede Partei schickt die Leute in der Reihenfolge, wie sie auf ihrer Liste stehen. Das bedeutet zum Beispiel: Wenn eine Partei 10 Politiker ins Parlament schicken darf, dann schickt sie die ersten 10 Personen auf ihrer Liste. Gruppen im Parlament Im Europäischen Parlament schließen sich die Politiker aus verschiedenen Ländern zu Gruppen zusammen. Das Fach-Wort für so eine Gruppe ist: Fraktion. In einer Fraktion sind Politiker, die eine ähnliche Politik machen wollen. Sie schließen sich zusammen, weil sie ihre Ziele gemeinsam besser durchsetzen können. So können sie zum Beispiel leichter Abstimmungen gewinnen. Die Politiker aus einem Land können sich also auf verschiedene Fraktionen verteilen. Kurz zusammengefasst Im Juni ist Europa-Wahl. Dabei wird das Europäische Parlament gewählt. Das Europäische Parlament ist das Parlament der Europäischen Union. Die Bürger der Europäischen Union wählen Politiker, die ihre Interessen vertreten. Diese Politiker machen dann zum Beispiel Gesetze. Oder sie entscheiden, wofür Geld in der Europäischen Union ausgegeben wird. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist die größte Wahl in Europa. Die Entscheidungen des Parlaments betreffen alle Menschen in der EU. Deswegen ist diese Wahl sehr wichtig. In ein paar Wochen wissen wir, wie sie ausgegangen ist. Weitere Informationen in Leichter Sprache gibt es unter: www.bundestag.de/leichte_sprache Impressum Dieser Text wurde geschrieben vom NachrichtenWerk der Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch An St. Kathrin 4, 36041 Fulda, www.antonius.de Kontakt: Bastian Ludwig, info@nachrichtenwerk.de Redaktion: Annika Klüh, Bastian Ludwig, Isabel Zimmer Titelbild: © picture alliance / Zoonar / DesignIt. Piktogramme: Picto-Selector. © Sclera (www.sclera.be), © Paxtoncrafts Charitable Trust (www.straight-street.com), © Sergio Pa- lao (www.palao.es) im Namen der Regierung von Aragon (www.arasaac.org), © Pictogenda (www.pictogenda.nl), © Pictofrance (www.pictofrance.fr), © UN OCHA (www.unocha.org), © Ich und Ko (www.ukpukvve.nl). Die Picto-Selector-Bilder unterliegen der Creative-Com- mons-Lizenz (www.creativecommons.org). Einige der Bilder haben wir verändert. Die Urhe- ber der Bilder übernehmen keine Haftung für die Art der Nutzung. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 22-23/2024 Die nächste Ausgabe erscheint am 8. Juni 2024.

Das Parlament - Nr. 22-23 - 24. Mai 2024 (2024)
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